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Nr. 129, siehe GAA, Bd. V, S. 171thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief

35      Handschrift Bester Freund,

so Mancher hat es mir gesagt, ich wäre eigentlich ein Poet,
aber auf Ehre (nr. 200) ich spreche lieber mit Dir von unseren
übrigen Erinnerungen und Verhältnissen als von der Poesie.

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Sie ist eine Art von Handwerk, wenigstens bei mir. Deinen
Brief vom 28st Juli erhielt ich zu meiner Freude; Freude
ist hier selten, wird auch bei uns nicht so theuer bezahlt als
eine gestohlene Forelle. Fressen und sich freuen ist bei
5uns einerlei. Trinken? wozu? Die Leute haben keinen
Verstand, sie brauchen ihn nicht zu versaufen. Wenn sie trinken,
so werden sie klug, id est grob (gegen sich, nicht wider
mich). Ich glaube, es war eine nette Zeit als wir nach Charlottenburg
fuhren. Herr Lasky (der Jenenser Student in Leipzig,
10der beim Thomasbecker saß und so schnell bei den Kaufleuten
borgen wollte) ist aus der Burschen welt in die
Griechen welt, von da in die Köpf welt gegangen, nämlich
vor dem Serail auf einer Lanze aufgepflanzt. Mein Gott,
welche Lebenserfahrung müßte es geben, wenn man sich hinter
15dem Köpfen besinnen könnte. Ist man es gewohnt, so hat
man es überstanden. Ich will ein Politiker werden, will ein
Buch über die Gefahr, welche uns von Rußland droht und
über die Mittel sie zu hemmen, schreiben. Auch will ich „eine
Giftpflanze, gewachsen im Boden der Pandekten“ ediren,
20nämlich das Erbschaftsrecht. Eintrocknen brauche ich sie nicht,
weil sie schon trocken genug ist. Hieße es nicht bei uns Juristen
„ewiger (sc. trockener) Sommer, ewige Ernte“ (sc Geldernte)
wo wäre L.[ex] 7 de V.[erborum] S.[ignificatione]?
Und — (das „und“ ist eine schwebende Brücke über Abgründe,
25die der Stylist nicht ausfüllen kann) — ich will doch
lieber Jurist in Detmold als Poet in Dresden seyn.

  Zu unsren Geschäften. 1) Die cartonnirten Exemplare auf
Velinpapier betreffend. Damit mach Dir nicht zu viel Mühe.
Ich wünschte höchstens ein einziges, Handschrift nämlich, um es dem
30hiesigen Fürsten zu präsentiren. Ein Exemplar auf gewöhnlichem
Papier reichte vielleicht auch aus. 2) Die Proben in den
Journalen. Die Idee darüber entstand wohl vorzüglich dadurch,
daß, da meine Werke in 2 Theilen gedruckt werden
sollten, wir wo möglich auf andere Weise den durch diese
35Zerstückelung gefährdeten Gesammteffect retten mußten. Du
willst aber beide Theile zugleich verschicken lassen (keinen
ja früher als den anderen!!), also ist der Gesammteffect
gerettet. Der Journale bedürfen wir nicht, und ex.[empli]
gr.[atia] der Gothland ist viel zu verwickelt, um nicht, indem
40wir eine Scene vorlegen, den Mißgriff jenes Griechen zu thun,
der einen Ziegel als Probe seines Hauses darzeigte. Deine

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ausgewählten Scenen des Gothland passen sonst zum Zweck,
sie sind zwar nicht die besten und sollen es nicht seyn, aber
sie gehen doch drauf los. Fast möchte ich (wenn ich überhaupt
dafür wäre) rathen einige Stellen des Gothland
5nur einrücken zu lassen: z. B. das Gespräch mit Berdoa im
4t Act von den Worten: „eine sternhelle Luft“ bis „o des
Wahnwitzes“ oder gar bis „jetzt o jetzt“., und dann im
selben Act die ganze Stelle, wo Gothland unter Sternschnuppen
und Nordlicht durch das Schneefeld stürzt. — Abendzeitung
10oder Morgenblatt wäre einerlei, aber ich bitte, si possible,
laß in meinem Lustspiel die Anspielungen auf Abendzeitung
ect und die literarischen Witze nicht aus; ich versichere,
daß ich grade die am meisten beleidigten Leute an
der Nase ziehen werde, mittelst einiger Sendschreiben. —
15Rattengifts Dicht- und des Teufels Hufeisen-Scene sind gut
gewählt. — Aus Nannette ist die leichteste Wahl: die vorletzte
und letzte Scene des 2t Actes z. B. oder gleich die
erste Scene des 1st Actes. Glaub', Nannette macht leicht
Glück. Aus Sulla die 1ste oder die 2te Scene des 2t Actes.
20Die Schlachtscene ist wohl zu skizzenhaft und wirkt nur im
Ganzen. — Alles dieß ist nur in eventum gesagt, denn offenherzig,
ich bin gegen diese stückweise Ankündigung.
3) Ankündigung? Sobald Du das Buch versendest mußt Du
eine an die Meiersche Buchhandlung in Lemgo schicken, wo
25möglich gleich gedruckt, damit sie sie dem „Intelligenz-Blatte
“ (so heißt unser Lippisches Journal!) beilegen. Sie
würde heißen: „In der Hermannschen Buchh. in Frkf. a. M.
sind erschienen und bei uns zu haben: Dramatische pp
pp. Diese Dichtungen bedürfen keiner gewöhnlichen Buchhändleranzeige;
30sie werden sich den Beifall selbst erringen.
Nur das darf man behaupten, ohne zu Handschrift fürchten, der Leser
werde uns einer Täuschung beschuldigen: es regt sich in diesen
verschiedenen tragischen, komischen, sentimentalen, und historischen
Dramen, ein äußerst gewaltiger, vielseitiger Genius,
35und dabei von einer Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit,
wie sie schwerlich in neueren Zeiten gefunden werden. Das
beigedruckte Urtheil eines großen Dichters wird dieses schon
allein bei der voranstehenden Tragödie rechtfertigen. Auch
der Aufsatz über die zur Mode gewordene Bewunderung des
40Shakspeare verräth gewiß eben so viel kritisches tiefblickendes
Talent als Kenntniß der älteren und neueren Bühne.“. —

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Diese Ankündigung (in der ich mir die Selbstschmeichelei
pto necessitatis zu verzeihen bitte) wäre bei uns
und anderwärts zu gebrauchen. 4) Kodon. Die Idee mit Althing
ist gut, jedoch, da Althing in der Masse des Publici
5immer etwas obscur, auch schon veraltet ist, so rathe ich, den
Molfells dem Schulmeister die Memoiren von Jacob Seingalt
de Casanova geben zu lassen: „Da, für die gute
Nachricht pp ein Exemplar der Memoiren von Jacob Seingalt
de Casanova, in Maroquin gebunden, und dennoch ungebunden.
10 Ich kaufte es von einem Juden pp. Schulmei-
ster: Memoiren von Jacob Seingalt de Casanova? Dieses
Napoleons der Unzucht? Dieses Generals der sieghaftesten
Niederlagen? Was soll pp pp pp gehörig zu „„studiren““ wissen.
“ — Die Scene mit Gretchen: „Guten pp den Jacob Seingalt
15de Casanova an den Kopf pp Schulmeister (indem
er die einzelnen Bände des Werkes aufhebt) Hm, Hm, kann
Madam diese Bücher also nicht zur Belehrung oder zum Studio
in der Küche gebrauchen? Gretchen. Ach pp Daß solche
Waare nicht zum Studio in der Küche gemacht ist pp.
20Man fiele in's Feuer! Madam ist pp pp Schulm. Hm, Hm,
hier sind aber nur drei Bände und ich hatte der Madam doch
vier überschickt pp“ — Die Scene mit dem Schmidt macht
sich von selbst, nur bemerke ich, daß überall, wo Du Casanova
hinsetzen willst, Du dieß des Effectes wegen mit seinem vollen
25Namen „Jacob Seingalt de pp. thun müßtest. — Scene wo der
Teufel gefangen wird: „Schulm. Die Sonne pp pp und ich
müßte mich sehr irren, wenn ihn nicht die magische Einwirkung
von 3 Theilen des Jacob Seingalt de Casanova, herausgegeben
von Wilhelm von Schütz, hieher locken sollte. Zur
30Sicherheit aber verstärke ich den Effect mit weil. Althings hinterlassenen
Schriften und lege sie auf den Casanova wie
schlechten Pfeffer auf Schweineschinken (Er setzt pp legt den
Casanova und Althings hinterlassene Schriften pp)“ Nachher
der Teufel: „Ich rieche hier zweierlei: links etwas Abscheuliches,
35Zuchtloses, rechts etwas Versoffenes, die Handschrift Kinder Züchtigendes
pp.“ Und zuletzt Schulm.: „mit Speck fängt man
Mäuse, mit Casanova und Althing den Teufel“ p. Somit
hättest Du Deinen Althing, ich meinen Casanova in uno. Das
übrige änderst Du selbst. Bist Du aber nicht mit meiner Idee
40zufrieden, so genire Dich nicht, sondern führe die Deinige
aus. 5) Die Notiz wegen der Abänderungen. Ich glaube, daß

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Du hinter die Vorrede setzen mußt, etwa so: „Anzeige
des Verlegers. Des großen Publici wegen mußte bei
dem Druck nachstehender Werke sehr Vieles verändert, ja gestrichen
werden. Da der Verfasser erklärte, er selbst würde
5wegen dieser Veränderungen keine Hand anlegen, wolle mir
aber, da er in seine Producte nicht verliebt sey, unbedingte
Gewalt geben, in dieser Hinsicht das Nöthige zu besorgen, so
mußte ich mich dem Geschäfte unterziehen. Manche bedeutungsvolle
Stelle mußte leiser ausgedrückt werden, manche
10mußte ganz wegfallen, hier und da waren im gedruckten
Buche Schwächen und Dunkelheiten grade an Orten nicht
zu vermeiden, wo das Manuscript kräftig und höchst
klar ist. Beides gilt vorzüglich von dem Gothland und von
dem Lustspiel.“ — Ich weiß, Du fühlst Dich nicht beleidigt,
15wenn ich Dir den Ausspruch, Du hättest manche Dunkelheit
oder Schwächung nicht vermeiden können (ich hätte
und habe es ja auch nicht gekonnt!) in den Mund lege; die
Sache thut vielleicht ihre Wirkung. 6) Der Aufsatz „über die
modische Bewunderung des Shakspeare“ oder über die Shakspearo
20-Manie, wird schon in Frankfurt seyn. Was meinst Du
von ihm? Er ist schnell geschrieben, konnte auch nicht
über den ganzen Shakspeare erschöpfend seyn (wer weiß, was
wir mal thun), aber da ich den Hrn. Shakspeare und die Hrn.
Poeten recht gut kenne, so glaube ich doch, es steckt
25etwas darin, und was mehr ist, er paßt in die Zeit,
also laß ihn hinterdrucken. Mancher kauft die Stücke, um
über den lieben Shakspeare etwas zu hören.

  Und jetzt athme ich wieder, und rede von allerlei, queer
durcheinander. Meine Speculation pto des hiesigen Theaters
30ist nicht ohne, und da mit oder vor Michael bei der Rückkunft
des Fürsten der Lärm recht losgeht, so freut es mich
äußerst, daß Du schon in 2 Monaten den Druck geendigt
zu haben und zu versenden gedenkst. Ich stehe hier so, daß
ich nützliche Sprünge machen kann. Dem „Creuzer“ in Heidelberg
35habe ich mit Willen eins in der Shakspearomanie abgegeben.
Heute ist ein schöner Tag, und wie die Karpfen
im Sonnenschein mit blauen Rücken aus dem Wasser ragen,
liegen die blauen Berge in der Ferne. Selbstrecensionen sind
auch ersprießlich. Preußen hat 7 Jahre gesiegt (1756—63)
40und 7 Jahre gelitten (1806—13). In dem 7jährigen Leiden
hat es mehr gewonnen als Handschrift im 7jährigen Siege. Künstlern und

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Helden (beides ist eins, denn der Krieg im Großen ist eine
Kunst) geht's wie der Perlmuschel; aus Qual werden Perlen.
Der König von Sachsen ist ja auch todt, er mit der hohen
Stirn, auf welcher die Läuse (wenn er welche gehabt hätte)
5schwindlich geworden wären, wie Edgar im Lear an den
Kreidefelsen von Dover. Ich müßte lachen, wenn die Hrn.
Politiker in den Türken den schlafenden Löwen geweckt hätten.
Ist Europa eine Jungfrau, so ist es Schade um sie, denn
statt eines weißen Flusses hat sie ein weißes Meer,
10und wo ohngefähr die Hintertheile ruhen, fluthet das
schwarze Meer. Deutschland ist das Herz, ach Gott ja,
es ist zerrissen, wie nur ein Herz seyn kann! Italien sieht
aus, wie ein bestiefelter Fuß, deshalb traten die Römer mit
ihm der Welt auf den Kopf. Die Griechen sind Narren, wenn
15sie sich helfen lassen. Wer sich selbst nicht befreien kann,
verdient keine Freiheit und bewahrt sie nicht. Die Menge ist
ein Hund, je mehr Prügel, je folgsamer. Wer sich selber
nicht imponirt, der imponirt anderen. Ich lerne Musik. Theaterrecensionen
sollte man so schreiben, daß man die Urtheile
20den Geistern der dargestellten Personen in den Mund legte.
Was würde der Wallenstein über Herrn Anschütz sagen? Die
Nordamerikaner sind um Rivinus reicher geworden. Die
Franzosen sitzen in Spanien, wie die Maus in der Falle. Ich
lese seit Jahren die Frankfurter Zeitung, früher redigirte
25sie Krapp (Grabb —), jetzt ein Hr. Oehlers, was ist das für
ein Mann? Höpfner in Leipzig, — Du schriebst mir, Du
hättest ihn gesprochen, — was ist er? Gewiß Magister? —
Und nun, schreib' bald, ich bitte, — und glaube, daß ich bin

Dein alter unedelmüthiger Freund Grabbe.

30Detmold den 3t Aug. 1827.

[Adresse:] Handschrift Sr Wohlgeboren dem Herrn Buchhändler Kettembeil
(Hermannsche Buchhandlung) in Frankfurt am Main.
Frei.