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Nr. 486, siehe GAA, Bd. VI, S. 105nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Düsseldorf) an Karl Leberecht Immermann (Düsseldorf)
Brief


  Exp. Geschrieben schon, wie

auch unten steht, am 10t Dec.

Dieß vorläufig zur Vermeidung

eines Irthums.

20  Hab' ich gestern in etwas gefehlt, so mach' ich's besser,
wenn Sie es mir sagen. Nichts elender als belehrt seyn wollen,
ohne Lehren hören zu können. Der Hannibal brennt mir in
d[en] Fingern. Ich hätte Ihr Urtheil gern über einige Scenen.
Das kann aber nur gescheh'n, les' ich selbst sie. Die Copie
25ist zu schlecht. Meine eig'nen Sachen les' ich zwar schlecht,
indeß deutlich, und damit ich nicht täusche, ohne Declamation.
Uechtriz, der in Berlin so gut gewesen, mein Lustspiel vorzulesen,
muß wissen, wie ungern ich eigenes Machwerk vortrage,
aber einen Lear ziemlich vortragen kann. Dr[um,] geht's an,
30besuchen Sie mich nach dem Mittagsessen, und lassen Sie uns
ein paar Scenen durchgeh'n, wie die Philologen sagen,
Streng, mit Tadel. Ich achtete Sie immer, jetzt, wo Sie
so gut sind, lieb' ich Sie. Werfen Sie diese Achtung und Liebe
nicht weg. Man bekommt sie selten aus reiner Münze. —
35Meine Umstä[nde] haben sich, wie ich wieder aus einem eben
angekommenen Brief s[ehe,] et[was ver]bessert. Indeß — wo
außer Ihnen und dem Canzleirat[h Petri] nur Einen Freund

[GAA, Bd. VI, S. 106]

 


auf der weiten, jetzt dabei kalten, E[rde. Eine] Zeile Antwort!Ihr


                              Grabbe.

Düsseld. 10 Dec. 1834.

                    Eod. Abends.

5[Dieser] Brief ward unterbrochen, indem ein Bekannter mich
zum Theater führte, nachdem wir vorher gemittagt. — Sie
sind, wie ich eben höre, in der Dämmerung bei mir gewesen, —
Sie haben, ahn' ich, überhaupt mehr gethan als ich erwartete, —
ich hoffe, ich kann bald — Pfui, das Wort „danken“, welches
10mir in der Feder saß, ist zu niedrig. [— „vergelten“ nicht
möglich für Edelsinn. Der ist zu g]eistig. — Sie haben mit
meiner Hausfr. über mein Mittagsessen geredet. Ich folg'
Ihnen, und speise von jetzt an mit meiner Wirthin. Fast
kommt's mir vor als wären Sie mein Luigi, ich bin aber zum
15Malheur in keiner Art ein Petrarca, [kann nicht so glänzend
die Waare zeigen.] Ich habe zu tief geliebt, muß das Zeug's
tief in Abgründen, meinen Archiven, bewahren, kann nur, wie
der Kenner merken muß, in herben Spott mich darüber trösten,
und gewiß auch Shakspeare, sans comparaison, hat nie mehr
20in Liebeserinnerungen geschwelgt als da, wo er den Macbeth
schrieb. Die Lady ist weich, aber Tieck irrt, wenn er glaubt,
sie müßt' es zur Schau tragen. — — Ich bin jetzt einsam:
indem ich dieses schreibe, ist's mir als säß' ich Ihnen gegenüber.
Lassen Sie mich etwas plaudern. Der Freischütz — mit
25den Stimmen ging's — die Schlange in der Wolfsscene, war
besser wie in Berlin, war trefflich, die wilde Jagd fast so
trefflich wie (rathen Sie!) in [den] letzten Zeiten Küstners
in Leipzig. Sie flog dort noch wirr[warrige]r durch die aufziehenden
Gewitterwolken. Das Spiel als Zu[sammen]spiel
30besser als ich sonst in diesem Stück gesehen. Welche Erinnerungen
stiegen [mir aber] bei den altbekannten Tönen auf:
falsche Freunde, verlaufene [Geliebte, ein] todter, guter Vater,
der das Stück so gern hörte, und mir Nachmittags abstarb,
während ich schlief. Er lebt mir aber noch, jede Mitternacht,
35im Traum, seh' ich, sprech' ich ihn, und er, außer Petri und
Ihnen, ist der einzige Freund, der noch kommt. — Entschlüsse
reifen bei mir spät, aber dann brechen sie plötzlich aus wie
hier: nicht das Geringste meines Lebens und Wesens ist Ihnen
von jetzt an verschlossen.

[GAA, Bd. VI, S. 107]

 


  Ich bin auch dabei mein Aschenbrödel umzuarbeiten. Auch
da wünsch' ich natürlich Ihren Rath. — Und lassen Sie uns
ein Lustspiel machen, bühnenrecht, geistreich, tollkomisch, den
Franzosen zum Trotz. Einer schreibt des Tags das 1ste Viertel
5eines Bogens, der andere setzt es auf dem 2t Viertel andren
Tags fort, und so ferner, wie ich schon früher andeutete. —
Geben Sie mir auch zu arbeiten, vor allem kommen
Sie. Ich komme auch zu Ihnen, aber die Manuscriptenschlepperei
würde sehr lästig seyn. Einmal 1 Stunde bei mir.

10  Sind Schreibfehler ect in diesem Brief, so werfen Sie es auf
mein bewegtes Gemüth, das eben so wenig wie die See nach
Belieben ebben und fluthen kann. Durchlesen kann, darf ich
ihn nicht wieder. (Ex post: thu's jetzt eben doch!)

  Plutarch's Hannibal, sey er deutsch, griechisch mit lateinischer
15Uebersetzung (ed. Xylander) oder französisch, hätt' ich gern,
auch dito Dörings Anleitung zu lat. Stylübungen. Da lernte
ich den Hannibal zuerst kennen, und ich mag den ersten Keim
nicht vergessen.Ihr

                              Grabbe.

20Abends, 10 Dec. 1834.

(Abgeschickt am 11t Dec. 1834, meinem oft so einfach fromm
gefeierten Geburtstag. Kommen Sie. Das soll mir das köstlichste
Angebinde seyn, ist auch das einzige, das ich erhalte. Meine
Wehmuth muß sehr groß seyn. Ich kann nicht einmal witzig
25werden. Und so wird die erfreuende Poesie gebraut? Auch
bei Ihnen? Sicherlich früher.

  Ich halte die Briefe überhaupt für den Stellvertreter der
Conversation, darum sehen die meinigen oft so wie Kraut
u. Rüben aus als ich selbs im räch bin.

30  Jetzt ich zu einem fatal Brief und dann zum Hannibal.
Wollen Sie kommen, dann: wann ungefähr, damit ich parat
bin. Ich habe einen einzigen Gang nur (auf die Post) zu thun,
möchte aber ihn einrichten, daß ich Sie nicht um 1 Minute versäumte.

 


486.

H: 2 Doppelbl. in 40. 4 S.
F: JW Bl. 5. 6. (8. 9.)
D: TdrO S. XXXVIII— XXXIX, als Nr 1.
  Das erste Blatt ist am rechten Rande unter Textverlust beschädigt.
Die fehlenden Textstellen sind, immer in Übereinstimmung
mit D, in eckigen Klammern ergänzt.

S. 106, Z. 15: zum] zu H zum D
S. 106, Z. 23: müßt'] müß't H
S. 107, Z. 10: Sie] sie H
S. 107, Z. 32: habe] fehlt H

S. 106, Z. 7: zum Theater: In die Aufführung des „Freischütz“.
S. 106, Z. 14 f.: Fast kommt's mir vor, als wären Sie mein Luigi
[usw.]: Luigi ist der Vertraute und Mentor Petrarcas in Immermanns
dramatischem Werke „Petrarca“ („Trauerspiele“, Hamm u.
Münster, Schultz u. Wundermann 1822, S. 305—416). Zum folgenden
vgl. insbesondere die Liebesgeständnisse Petrarcas im zweiten
Akte (S. 342—45, 353—56).
S. 106, Z. 20: sans comparaison: ohne einen Vergleich ziehen zu
wollen.
S. 106, Z. 21: den Macbeth: Er war am 2. November von Immermann
aufgeführt worden.
S. 106, Z. 22: Die Lady ist weich [usw.]: Siehe die Anm. zu
Bd 4, S. 37, Z. 13 ff. (Verweis zum Kommentar S. 403—404.)
S. 107, Z. 14 f.: Plutarch's Hannibal [...] griechisch mit lateinischer
Uebersetzung, (ed. Xylander): Die Übersetzung der „Vitae
parallelae“ des Wilhelm Holtzman, der sich schon in seiner Studentenzeit
Guilielmus Xylander nannte, ist zuerst mit Noten (ohne
griechischen Text) in Folio zu Heidelberg 1561 erschienen, später
Basel 1592 und Frankfurt 1592 in Oktav und öfter.
S. 107, Z. 14 f.: Plutarch's Hannibal [...] französisch: „Les
Vies d'Annibal et de Scipion, traduites par Charles de L'Écluse,
pour servir de supplément aux vies de Plutarque“ finden sich im
neunten Teile der „Vies des Hommes Illustres de Plutarque, Traduites
du Grec par Jacques Amyot“ (Paris, Cussac 1786), S. 409 ff;
Hannibal S. 411—509. Verfasser ist der florentinische Gelehrte
Donato Acciajuoli (1428—1478), dessen „Leben Hannibals“ 1478
zusammen mit einigen Übersetzungen von Lebensbeschreibungen des
Plutarch ins Lateinische erschienen war.
S. 107, Z. 16: Dörings Anleitung zu lat. Stylübungen: Die „Anleitung
zum Uebersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische von
F.[riedrich] W.[ilhelm] Döring, Herzoglich Sachsen-Gothaischem
Kirchen- und Schul-Rath und Director des Gymnasiums zu Gotha“
ist zuerst im Jahre 1800 bei Friedrich Frommann in Jena u. Leipzig
erschienen. Sie fand in viele Schulen Eingang und hat daher
eine ganze Reihe von Auflagen erlebt: 1835 die elfte des ersten,

[Bd. b6, S. 448]

 


1825 die fünfte des zweiten Teiles. Die LBD besitzt die erste und
die vierte verbesserte und vermehrte Auflage, diese vom Jahre
1807, das GrA die siebente vermehrte und verbesserte Auflage des
ersten Teils vom Jahre 1817. (VIII, 446 S. 80). In dieser folgen
auf die „Vorübungen für die ersten Anfänger“ zwei Curse. Der
erste (S. 157 ff.) enthält „Einige Erzählungen aus der römischen
Geschichte, in chronologischer Ordnung von Romulus bis zum Ende
des ersten punischen Krieges“, der zweite (S. 257 ff.) „Einige Erzählungen
aus der römischen Geschichte, vom Anfange des zweyten
punischen Krieges bis zum Tode des Kaisers Augustus“.
S. 107, Z. 30: einem fataleren Brief: An Petri; vgl. Verweis zum Kommentar Nr 487.