Nr. 57, siehe GAA, Bd. V, S. 60 | 14. Februar 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Berlin) an Adolph Henrich Grabbe, Dorothea Grabbe (Detmold) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Theure Eltern! Euern Brief vom 6ten Februar habe ich zu meiner großen 25Freude erhalten. Ich bin noch gesund, hoffentlich seyd Ihr es auch. Daß Ihr die berliner Zeitung haltet, ist mir außerordentlich lieb; die theuren Theaterpreise schaden aber nichts, da ich in der Regel Freibillets habe. Meine Straße ist die größte in 30Berlin, und wenn Ihr sie nicht in der Zeitung häufig findet, so kommt das daher, weil in diesem Viertel wenige Kaufleute wohnen. — Vor ein paar Tagen ist hier der Schauspieler Stich, welcher den Grafen Blücher, der sehr arm ist und von der Mad. Stich als Galan unterhalten worden seyn soll, in 35seiner Wohnung überrascht hat, von einem Dolchstich gefährlich verwundet worden. — Von dem braunschweiger Theater hab' ich einen Brief erhalten, der mir baldige Anstellung verspricht; wir haben aber auch an viele andere Theater geschrieben, und es wird alles schon gut gehen. Daß die 10 [GAA, Bd. V, S. 61] Louisd'ore, welche Ihr mir noch schicken wollt, die letzten sind, frißt mir um euretwillen am Herzen; — aber seyd versichert, so gewiß ein Gott lebt, kommt noch die Zeit, wo ich Euch alles im größten Überflusse ersetze. — Zwei Hosen 5hatte ich in der Kälte nicht angezogen. — Wahrscheinlich werde ich Ostern kommen und wir wollen viel miteinander sprechen. — Ich liebe Euch weit mehr als Ihr selbst denkt. — Laßt die andren alle versorgt seyn, ich will gleichfalls schon fertig werden; glaubet nur, wenn ich mich bei Euch auch 10examiniren ließe, so würde ich doch nicht emporkommen, weil ich vielen ein Stein im Wege bin. — Vor'gen Weihnachten ist Begemann hier gewesen, und er hat zwei Nächte bei mir gewohnt, in der dritten mochte ich ihn aber wegen meiner Wirthsleute nicht mehr bei mir behalten. — Auf den Straßen 15ist jetzt so ein ungeheurer Koth, daß man kaum ausgehen kann; da war in Leipzig die Polizei besser, obgleich man bedenken muß, daß hier die Straßen zu breit und ausgedehnt sind. — Ostern werde ich die zerrissenen Strümpfe sämmtlich mitbringen; die Mutter wird viel daran zu flicken erhalten. 20— Trinket Caffee! Caffee! Caffee! — Das münchner Schauspielhaus ist durch den Freischützen abgebrannt; hier in den Theatern müssen in der Nacht alle Viertelstunde Wächter durch das Haus gehen. — Mein Haus, wo ich wohne, hat zwei Treppen, und darum kann ich bei Feuersgefahr ohne 25Sorgen seyn. — O schreibt mir bald wieder! — Savigny, an welchen ich Ballhorn-Rosens Brief bestellt habe, hat eine Hirnentzündung bekommen. — Unter denen, welche seit Voß Tode zu Staatsministern vorgeschlagen sind, befindet sich auch der bekannte General Gneisenau; bis jetzt verwaltet Graf 30Lottum interimistisch die Stelle. — Es heißt, die jüngste preußische Prinzessinn würde in 2 Jahren den Prinzen von Braunschweig heirathen. — Neulich brach hier eine Tänzerinn mitten auf dem Theater das Bein; es war in der Oper Cortez, in welcher 24 Pferde ein Ballet ausführen. — Schreibt mir 35bald wieder! bald! Stets verbleibe ich Euer treuer Sohn Grabbe. Berl. den 14ten Febr. 40 1821 [richtig: 1823]. [GAA, Bd. V, S. 62] |
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57.
H: 1 Bl. in 80, 1 Bl. in kl.-80, 1 Bl. in kl.-40; 5⅔ S.
F: GrA
T: Gegenw. S. 11.
T1: WBl IV 350—51, als Nr. 15.
D: WGr IV 173—74, als Nr 20.
S. 61, Z. 11 f.: — Vor'gen Weihnachten [bis] in der drit-(ten)]
aRl mit Rotstift angestr., mit Rotstift: NB H
S. 61, Z. 12: Begemann] Mit Rotstift unterstr. H
S. 60, Z. 32—36: Vor ein paar Tagen [usw.]: Auguste Düring
(1795—1865), seit 1812 Mitglied des Königl. Schauspielhauses in
Berlin, war seit 1817 mit dem Hofschauspieler Wilhelm Stich verheiratet.
Nach einigen Jahren wurde die Ehe durch eine unglückliche
Katastrophe erschüttert. 1823 wurde Auguste Stich von einem jungen,
[Bd. b5, S. 450]
für sie begeisterten Offizier, dem Grafen Blücher, gebeten, ihm vor
seinem Weggang von Berlin eine Abschiedsunterredung zu gewähren.
Diese Zusammenkunft fand am 6. Februar statt. Beim Fortgehen
begegnete der Graf dem eifersüchtigen Gatten, der im Theater beschäftigt
gewesen war. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel, worauf
Stich vom Grafen mit einem Dolche gefährlich verwundet wurde.
Das Publikum nahm gegen die Künstlerin Partei. Als sie es wagte,
am 8. Mai (als Thekla im „Wallenstein“) wiederaufzutreten, kam es
zu stürmischen Szenen. Nur mit Mühe ist es der Künstlerin gelungen,
die ihr vordem in der Öffentlichkeit entgegengebrachte Neigung
zurückzugewinnen.
S. 60, Z. 36 f.: Von dem braunschweiger Theater habe ich einen
Brief erhalten: Dieser ist nicht bekannt.
S. 61, Z. 11—14: Vorigen Weihnachten ist Begemann hier gewesen
[usw.]: Siehe die Anm. zu S. 45, Z. 8.
S. 61, Z. 20 f.: Das münchner Schauspielhaus ist durch den Freischützen
abgebrannt: Siehe die Anm. zu S. 59, Z. 21 f.
S. 61, Z. 27—30: Unter denen, welche seit Voß Tode [usw.]:
Voß (siehe die Anm. zu S. 54, Z. 36 f.) war schon wenige Monate
nach der Ernennung zu Hardenbergs Nachfolger, nämlich am 30. Januar
1823, gleichfalls aus dem Leben geschieden. Karl Friedrich
Heinrich Graf von Wylich und Lottum (1767—1841) hatte im Jahre
1818 endgültig die Finanzsachen und die Geschäfte des Innen-Ministeriums
übernommen. Vossens Stelle ist nicht wieder besetzt
worden, da der König fortan mit Fachministern regieren wollte.
So hat dem Grafen Lottum seit 1823 nur obgelegen, über die allgemeinen
Landesangelegenheiten vorzutragen.
S. 61, Z. 30—32: Es heißt, die jüngste preußische Prinzessin
[usw.]: In Wirklichkeit hat die am 1. Febr. 1808 geborene Prinzessin
Luise (Auguste Wilhelmine Amalia), jüngste Tochter Friedrich
Wilhelms III., am 21. Mai 1825 sich mit dem Prinzen Wilhelm
Friedrich Karl der Niederlande (1797—1881) vermählt.
S. 61, Z. 33: in der Oper Cortez: vom Generalmusikdirektor
Gasparo Spontini.