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Nr. 59, siehe GAA, Bd. V, S. 63thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Leipzig) an Ludwig Tieck (Dresden)
Brief

    Handschrift Hochverehrter Herr!

  Nahe am Untergange blicke ich noch einmal auf der Erde
umher, und sehe Keinen, Keinen als Sie zu dem ich mich
wenden möchte; ich flehe um nichts als diesen Brief zu lesen.

25  Ich bin in Lippe-Detmold von armen Eltern geboren; sie
waren thöricht genug mich auf das Gymnasium zu schicken
und dadurch meiner Seele Gelegenheit zum Erwachen zu
geben; ich machte bald in den Wissenschaften bedeutende
Fortschritte und überflügelte vielleicht Handschrift manche meiner Lehrer;
30selbst die Fürstinn Pauline wurde auf mich sehr aufmerksam
und bezeugte mir persönlich ihr thätiges Wohlwollen. Mein
damaliger Vorsatz, zu dem mich mehrere Verbindungen in
Hannover ermunterten, war, Reisender in Diensten der
londoner wissenschaftlichen Societet zu werden, und ich brachte
35es wir[k]lich in der mathematischen und physischen Geographie,
Astronomie und Naturgeschichte soweit, daß ich mich
noch jetzt stehendes Fußes einem Examen glaube unterwerfen
zu können. Mittlerweile wurde aber Handschrift der lippische Oberarchivar
mit mir bekannt; er fand daß ich mir nebenbei eine mehr

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als gewöhnliche Kenntniß der Geschichte erworben hatte, und
machte mir Hoffnung dereinst sein Adjunct zu werden. Bei
dieser Aussicht auf die einzige Versorgung, welche im Vaterlande
für mich paßte, ließ ich alle übrigen Pläne fahren, und
5widmete mich bloß antiquarischen, historischen und politischen
Studien. Daß ich während der Zeit auch alttestamentarische
Exegese getrieben habe, und daß mir ein Stipendium von
400 Thalern angeboten wurde, wenn ich Theolog werden
wollte, lautet Handschrift sonderbar, ich vermag es indeß gleichfalls zu
10beweisen. — Nun wird es gewiß Jeder, desse[n] Inneres
sich so gewaltsam und verschiedenart[ig] entwickelt hat, wenigstens
nicht unnatürlich finden, daß mitunter auch einige
äußerli[ch] etwas heftige Ausbrüche des jugendliche[n] Muthes
zum Vorschein kamen; meine e[t]was kleinstädtischen
15Landsleute mochten oder wollten dieß jedoch nicht begreifen
[;] sie beurtheilten mich nach ihrer enghe[r]zigen Kritik,
und ich merkte, daß e[s] um meine Laufbahn im Lippischen
g[e]than sey. Vielleicht ist es gut, daß s[ich] Handschrift alles so gewendet
hat; denn daß ich in einem Lande, wie meine Heimath, zu
20dem erbärmlichsten Brodgelehrten hätte versauern müssen,
leidet wohl keinen Zweifel; auch flüchtete ich mich in jener
Zeit, wo mich die Menschen meiner Umgebung verließen,
zum erstenmal in das heitere Reich der Kunst und suchte
mir Trost und Hoffnung daraus zu holen. Um aber, da es
25zu spät war wieder Schuster oder Schneider zu werden, eine
Carriere einzuschlagen, welche mir eine ziemliche sichere
Aussicht Handschrift auf Beförderung darbot, entschloß ich mich die
Jurisprudenz zu studiren, und mich dann in Preußen examiniren
zu lassen. Als ich mich nun nach zweijährigem Besuche
30der leipziger Universität, welcher meinen unglücklichen Eltern
den letzten Heller gekostet hatte, zur Prüfung in Berlin
melde[n] wollte, suchte ich mir das nöthige Geld durch
Schriftstellerei zu verschaffen und ich verfertigte das von
Ihnen so gütig aufgenommene Trauerspiel. Aber kein Verleger
35wagte sich damit zu befassen, Handschrift obgleich es mir in Berlin
eine Menge Freunde zuzog, von deren Unterstützung ich daselbst
¾ Jahr gelebt habe. Ich dachte, daß es mir mit einem
Lustspiele vielleicht besser glücken würde, und ich vollendete
daher das Ihnen übersandte Stück; es hat auch in einer Gesellschaft,
40in welcher es damals vorgelesen wurde, beinahe
furore gemacht; ich war indeß zu scheu geworden, es einem

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Verleger anzubieten, und da ich grade zu derselben Zeit den
nachsichtsvollen Brief von Ihnen erhielt, so überschickte ich
Handschrift es Ihnen und entschloß mich Ihr Urtheil abzuwarten. Mittlerweile
rückten mir aber die Noth und der Mangel immer
5näher, und ohngeachtet ich unter mehreren mir kurz vorher
noch wildfremden Mensche[n] soviel Liebe fand, daß ich
sie um mich weinen sah, so mochte ich doch nicht lä[n]ger
von ihrer Gnade leben, und ich suchte in ein selbstständiges
V[er]hältniß zu kommen. Ich erinnerte mi[ch] des Talents,
10welches von jeher als [mein] größtes angesehen worden war,
un[d] Handschrift meldete mich bei der berliner Bühne zum Schauspieler.
Aber ohngeachtet alle meine Bekannten für mich sprachen,
ohngeachtet ich verlangte, daß man mich nur aus der Thüre
werfen möchte, wenn ich in irgend einer Probe nicht bestände,
15so konnte ich es auch nicht einmal dahin bringen, daß ich
zu einer mündlichen Unterredung vorgelassen wurde. Nun
galt es das Letzte, ich verließ vor acht Tagen Berlin und reis'te
nach Leipzig, um an dem hiesigen Theater mein Glück zu
versuchen. Handschrift Da sitze ich nun seit vorgestern, und weiß nicht
20ob ich zu dem Dr. Küstner hingehn soll oder nicht; ich kenne
hier keinen einzigen Schauspieler, falle allen in ihre Ro[l]len,
kann leicht ihren Neid erregen, und es wäre mit mir zu Ende,
wenn mir ihre Intriguen auch diese Hoffnung abschneiden
sollten; Geld, Kleider, selbst beinah Papier und Tinte sind
25mir ausgegangen, und wenn ich mich vorstellen lassen will,
so muß ich gewärtigen, daß mir wegen meines schlechten
Rockes Handschrift die Thür gewiesen wird. Wenn meine Buchstaben
schreien könnten, so würden Ewr Wohlgeboren mir gewiß
vor Mitleid bald antworten; ich rufe Sie bei allem Heiligen
30an, mir einige kurze Stunden zu widmen, und mein Lustspiel
zu lesen, und mir, wenn es irgend möglich ist, in zwei Tagen
darauf zu antworten; es ist keine Frechheit daß ich Sie
hierum bitte, es ist Verzweiflung; vielleicht kann ich das
Lustspiel, wovon Sie das einzige Manuscript besitzen, mit
35Hülfe Ihres Briefes, der Handschrift deshalb wahrlich nicht günstig zu
seyn braucht, da ein Brief von Tiek schon an und für sich
genug ist, an einen Buchhändler verkaufen; auch versichere
ich Ihnen nochmals auf meine Ehre und fodere Sie auf mich
zu verlassen, wenn Sie es anders finden sollten, daß ich ein
40höchst bedeutendes Talent zum Schauspieler besitze, und ersuche
Sie, mir gütigst mitzutheilen, wenn sich vielleicht in

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Dresden eine Aussicht für mich eröffnen Handschrift sollte, — o verstoßen
Sie mich nicht! Wer weiß, wo ich in acht Tagen bin,
wenn ich keine Antwort von Ihnen erhalten sollte! Nur
eine kurze Antwort! Sie werden es nicht bereuen mich beschützt
5zu haben, denn ich habe noch nie Feinde, sondern
höchstens Neider gehabt. Verzeihung, Verzeihung, wenn ich
zu kühn gewesen bin! — Stets
                       Ewr Wohlgeboren
Leipzig, den 8ten    
    März, 1823.                    gehorsamster Grabbe.

(Addresse: Fleischergasse, nro. 241 bei Herrn Rost.)
Handschrift Handschrift Handschrift Handschrift Handschrift Handschrift Nachschrift.
  Seit Neujahr habe ich ein ländlich-heitres Trauerspiel in
3 Akten geschrieben, und ich wage hiemit anzufragen, ob ich
15es Ihnen übersenden darf, wenn ich es erst reinlich copirt
habe? Jetz[t] arbeite ich an einem streng-historischen Stücke:
Sulla. — Meine Lage entschuldige alles Inconventionelle dieses
Briefes!
                    Stets
20                      Ihr
                        ergebner Grabbe.

 

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1818Meyersche Hofbuchhandlung Nr. 22, 03. März 1818
1820Adolph Henrich Grabbe 
1822Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 42, 01. März 1822 — Gotthelf Heinrich Jacobi Nr. 49, 21. November 1822 — Ludwig Tieck Nr. 51, 06. Dezember 1822 — Adolph Henrich Grabbe 
1823Adolph Henrich Grabbe  — Otto Carl August Ludwig Höpffner Nr. 62, 04. April 1823 — freunde Nr. 65, 24. April 1823 — Ludwig Christian Gustorf  — Karl Köchy Nr. 73, 24. Juli 1823 — Witwe Lohse Nr. 79, 23. November 1823
1824Karl Köchy Nr. 82, 16. Februar 1824 — Wilhelm Hermann Claepius Nr. 84, 01. März 1824 — Examinationskommission Nr. 86, 28. März 1824 — Fürstlich Lippische Regierung Nr. 87, 02. Juni 1824
1826Fürstlich Lippische Regierung Nr. 111, 14. November 1826 — Christian Gottlieb Clostermeier 
1827Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 137, 07. November 1827 — Fürstlich Lippische Regierung 
1828Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 154, 23. Januar 1828 — Fürstlich Lippische Regierung  — Johann Karl August Kestner Nr. 178, 28. März 1828 — Louise Clostermeier  — Louise Christiane Clostermeier 
1829Louise Christiane Clostermeier Nr. 233, 13. Juli 1829 — Fürstlich Lippische Regierung Nr. 252, 22. Dezember 1829
1831Fürst Leopold zur Lippe II. Nr. 298, 14. April 1831 — Fürstlich Lippische Regierung  — Louise Christiane Clostermeier Nr. 348, 29. Dezember 1831
1832Fürstlich Lippische Regierung  — Secondelieutenant Carl Wilhelm Runnenberg Nr. 365, 27. Juli 1832
1833Secondelieutenant Carl Wilhelm Runnenberg Nr. 370, 20. Januar 1833 — Wilhelm Arnold Eschenburg Nr. 378, 16. März 1833 — Johann Wilhelm von Hoffmann Nr. 379, 17. März 1833 — Louise Christiane Grabbe Nr. 387, 26. April 1833 — Fürstlich Lippische Regierung 
1834Fürst Leopold zur Lippe II. Nr. 423, 30. Januar 1834 — Fürstlich Lippische Regierung  — Louise Christiane Grabbe Nr. 476, 13. November 1834 — Karl Leberecht Immermann Nr. 481, 21. November 1834
1835Karl Leberecht Immermann  — Louise Christiane Grabbe  — Carl Georg Schreiner Nr. 648, 27. August 1835
1836Karl Leberecht Immermann Nr. 687, 25. Februar 1836 — Carl Georg Schreiner  — Moritz Leopold Petri Nr. 700, 05. May 1836 — Louise Christiane Grabbe  — Fürstlich Lippisches Konsistorium Nr. 728, 07. September 1836
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