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Nr. 60, siehe GAA, Bd. V, S. 66thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Leipzig) an Ludwig Tieck (Dresden)
Brief

    Handschrift Handschrift Hochverehrter Herr und Meister!

  Das wehmüthige Gefühl, welches jeden Gebildeten ergreift,
wenn er hört, daß ein Mann wie Sie, der ganz Deutschland
25mit seinen Werken erfreut, an schmerzlicher Krankheit leiden
muß, kann ich Ihnen nicht schildern; könnte ich Ihre Gicht
nur auf meine jungen Schultern laden!

  Gewiß beurtheilen Sie zwar nicht mein Lustspiel, aber mich
selbst zu strenge, wenn Sie glauben, daß ich mich noch jetzt
30in solchen Gemeinheiten gefalle; das Stück Handschrift entstand ja mit
dem Gothland zugleich in einer Periode, die nun schon wenigstens
in soweit vorüber ist, daß ich neulich, als ich im
Stillen mein Trauerspiel wieder durchsah, glühend roth wurde.
Ich hoffe, daß Sie mich in meinem neuesten Producte, welches
35ich Ihnen bald zu übersenden gedenke, in mehrfacher Hinsicht
nicht wieder erkennen. Jugendlicher Keckheit, die ihre Narrethei

[GAA, Bd. V, S. 67]

 


einsieht, pflegt man ja von allen Fehlern am leichtesten
zu verzeihen, und ich bitte zagend um Nachsicht.

  Vielleicht hat selten Jemand seinen Handschrift gewählten Beruf so
ungern verlassen als ich. Ich habe mich deshalb seit einem
5Jahre an Hohe und Niedere gewendet, und ich weiß, daß
ich mich niemals völlig von den Wissenschaften loszureißen
vermag, aber Sie haben sicher schon zum Theil aus meinem
vorigen Briefe wahrgenommen, wie wenig ich auf diesem
Wege eine Beförderung erwarten darf, und sollte ich einst
10so glücklich seyn, Sie mündlich kennen zu lernen, so bin ich
überzeugt, daß Sie selbst mich gleich nach unserer ersten
Unterredung zu meinem Vorhaben ermuntern werden.

  Handschrift Über mein etwaiges Talent zur Bühne wage ich mich nicht
weiter auszulassen, weil ich dabei zu leicht in den Schein der
15Selbsthudelei verfallen möchte: ich versichere nur ganz einfach,
daß ich meine Stimme ohne Anstrengung vom feinsten
Mädchendiscant bis zum tiefsten Basse moduliren kann, und
daß der höchste Tadel, welchen man in Gesellschaften über
meine Darstellung aussprach, darin bestand, daß ich die
20Charactere beinahe zu scharf und eigenthümlich aufgriffe und
im Tragischen den Zuschauer zu sehr erschreckte. Auch lautet
es läppisch, Handschrift aber ich muß es doch sagen, daß ich in dem
Augenblick keine Rolle wüßte, die ich mir nicht binnen zwei
Wochen zu spielen getraute; mindestens zweifle ich nicht,
25daß, wenn ich z. B. den Hamlet oder Lear gut sollte darstellen
können, ich den Falstaff oder Dupperich nicht weniger
gut agiren würde; ja es scheint beinahe, als vermöchte nur
diese Allgemeinheit mein Gemüth in steter Frische erhalten.
Da ich aus Westphalen bin, wo man das Hochdeutsche im
30Gegensatz zum Plattdeutschen Handschrift um so reiner ausspricht, und
da ich noch dazu drei Jahre lang in Leipzig und Berlin auf
meine Mundart geachtet habe, so brauche ich wegen meines
Dialekts wohl nicht bange zu seyn.

  Wie gerne ich übrigens klein anfangen und mich in alle
35Schranken fügen werde, kann ich Ihnen nicht genug versichern,
und wenn Sie nun gar sich herablassen wollten, mich
während dieser Zeit der Niedrigkeit bisweilen Ihrer Belehrung
zu würdigen, so hätte ich Ursache, der Handschrift geseegnetsten und
einflußreichsten Periode meines Lebens entgegen zu blicken.
40Und bekäme ich auch nur eine Gage von 200 rthlrn., so würde
ich in diesem Falle selbst den reichsten Banquier in Deutschland

[GAA, Bd. V, S. 68]

 


nicht beneiden. Aber leider! leider! — ich zittere, indem
ich es niederschreibe, und ich würde es nimmer thun, wenn
es sich nicht um Alles handelte — muß ich Sie ersuchen,
mir, wenn es möglich ist, wenigstens mit einem einzigen
5Worte und zwar — — mit der nächsten Post zu antworten.
Sie können ja von Ihrem Handschrift Bedienten, bloß das Wörtchen „Hoffnung“
oder „wahrscheinliche Anstellung“ in den Brief schreiben
lassen, — es soll mir genug seyn, und ich weiß dann
doch, wie ich mich hier zu verhalten habe. Auch verlange ich ja
10gar nicht Gewißheit, sondern nur die Aussicht, ob ich in
Dresden, wenn ich mich als solchen bewähre, wie ich mich in
diesem Briefe darstelle, vielleicht ein Unterkommen, bei dem
ich nicht zu Grunde gehe, finden kann. — Nebenbei liegt
Handschrift ein Brief von dem Herrn Professor Wendt, welcher mich
15auf Ihre gütige Empfehlung sehr freundlich empfing; den
Herrn Dr. Wagner habe ich bis jetzt noch nicht treffen können.
— Ich stürze für Sie in's Feuer.
                     Ihr
Leipzig, den 18ten März    gehorsamster Ch. D. Grabbe.
  1823.    

(Addresse: Fleischergasse nro. 241.)
[Beilage.]
                    Handschrift Werther Freund
Hr. Grabbe ist auf Ihre Empfehlung bei mir gewesen. Er hat
25mir seine Lage nicht nur vorgestellt, nach welcher es un-
möglich scheint, ihn bei der Wissenschaft zu erhalten,
sondern mir auch einiges aus Shakspearschen Stücken und zwar
so vorgetragen, daß ich wenigstens fest überzeugt bin, er werde
unter den Schauspielern nicht als gewöhnliche Person
30stehen. Nehmen Sie sich daher seiner immer so väterlich an,
wie es Ihre Briefe an ihn aussprechen, die mich tief gerührt
und mit neuer Liebe für Sie, wenn es möglich ist, erfüllt haben.
Dieser Mensch scheint durch sein Naturell seine Kenntniße,
seine durch verschiedene Lagen erhöhte Versatilität bestimmt
35zu seyn, durch die mannichfaltigsten Zustände sich hindurchzuschlagen,
bis die Kraft sich zerrieben oder er in Anschauung
eines Höhern Ruhe finden kann. Ich wünsche ihm das Beste,
kann ihm aber leider nichts helfen, da hier bei der Bühne eben
jetzt nicht anzukommen ist. Es ist eine der Eigenthümlichsten
40Naturen, die mir begegnet sind; kräftig in seiner Äusserung
und doch voll ungemein viel Reflexion über sich selbst!!

[GAA, Bd. V, S. 69]

 


  Handschrift Mündlich Mehrers über ihn. Aber warum haben Sie
mir denn auf meine lange Predigt auch nicht ein Wörtchen
geantwortet? Wie weit ist die Novelle?
  Warten Sie nicht ab bis ich nach Dresden komme. Ich
5hoffe zu kommen, aber erst während der Messe — und in
Vertrauen gesagt, nur der Mangel eines gewißen Etwas könnte
mich hindern, das man in sofern mit Recht das Beste nennen
könnte, weil sein Mangel meistens am Besten hindert, wie
lucus a non lucendo — doch leuchtet es gar sehr — und es ist
10Ihnen kein Räthsel, was ich meine.
                        Mit herzlicher Ergebenheit
                    aber in der größten Eil
                                 treuverbundener
                                

 


60.

H: 5 Bl. in 40; 9 S.
  Die Blätter sind aus einem Briefbande entfernt worden und noch
heftartig zusammengeklebt.
F: GrA
D:Briefe an Ludwig Tieck“, Bd 1, S. 243—45, als Nr 1.

Die Beilage:
H: 1 Bl. in 40; 2 S.
F: GrA

[Bd. b5, S. 452]

 


T: Grabbe. Begegnungen mit Zeitgenossen. Hrsg. von Alfred
Bergmann. Weimar, Böhlau 1930, S. 26, als Nr 6.
Faks.: Alfred Bergmann: Christ. Dietr. Grabbe. 1801—1836.
Sein Leben in Bildern. Leipzig, Bibliographisches Institut (1936),
Abb. 17. (Die erste Seite.)

S. 67, Z. 26: Dupperich: Dupperig, Anwald im Ort, ist eine
Rolle in Heinrich Becks Lustspiel „Die Quälgeister“, einer Bearbeitung
von Shakespeare's „Much ado about nothing“.
S. 68, Z. 14: Professor Wendt: Amadeus W. (1783—1836) erhielt
im Jahre 1816 an der Leipziger Universität eine ordentliche Professur
der Philosophie. Diese hatte er bis 1829 inne; dann folgte
er einem Rufe nach Göttingen.
S. 68, Z. 16: Dr. Wagner: Gottlieb Heinrich Adolf W.
(1774—1835), damals als Privatgelehrter in seiner Vaterstadt Leipzig
lebend. Er war ein guter Kenner der antiken wie der englischen,
französischen und italienischen Sprache und Literatur, hatte sich
als Übersetzer von Byrons „Manfred“ (1819) einen Namen gemacht
und einige kleinere Stücke fürs Theater geschrieben. Vier von ihnen,
„Umwege“, ein Lustspiel in fünf Aufzügen, „Liebesnetze“, dramatisches
Spiel in zwei Aufzügen, „Ein Augenblick“, dramatisches
Spiel in einem Aufzuge, und „Hinterlist“, Lustspiel in einem Aufzuge,
eine Übersetzung von Nicolas-Thomas Barthe's „Fausses infidélités
“, waren 1816 unter dem Titel „Theater“ bei Brockhaus in
Leipzig und Altenburg erschienen. Seine Gattin, unter dem Decknamen
„Adolfine“ gleichfalls schriftstellerisch tätig, war die
Schwester Amadeus Wendts; der Tondichter Richard W. ist sein
Neffe. Siehe den mit „K.[ühne]“ unterzeichneten Nekrolog in
Nr 152 der „Zeitung für die elegante Welt“ vom 5. Aug. 1835,
S. 605.
S. 68, Z. 34: Versatilität: Beweglichkeit, Wandelbarkeit.
S. 69, Z. 3: Wie weit ist die Novelle: Doch wohl „Dichterleben“.
Als Heinrich Brockhaus am 27. Dezember 1822 Tieck in Dresden
besuchte, war er ihn wegen einer Novelle zu dem Taschenbuche
„Urania“ sehr angegangen, und der Dichter hatte ihm eine versprochen.
Es sei, so bemerkte dieser in seinem Briefe an den Verlag
vom 19. Januar 1823, diejenige, die ihm die liebste sei und die
gewissermaßen mit der Vorrede zu „Shakespeare's Vorschule“ und
den darin enthaltenen Schauspielen (in diesem Jahre von Brockhaus
verlegt) zusammenhängen werde. Wider Verhoffen konnte er jedoch
die Novelle erst sehr viel später in Arbeit nehmen und den Schluß
des Manuskripts erst mit seinem Briefe vom 18. Mai 1824 abliefern,
so daß sie, da auf das Jahr 1825 keine „Urania“ erschien, nicht
früher als in der auf 1826 veröffentlicht werden konnte. (Vgl. „Aus
Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F. A.
Brockhaus“. Hrsg. von Heinrich Lüdeke von Möllendorf. Leipzig,
Brockhaus 1928 = „Aus dem Archiv F. A. Brockhaus. Zeugnisse
zur Geschichte geistigen Schaffens.“ Hrsg. von Hermann Michel.
Bd 3. S. 23. 26—29. 31. 34. 39—43.)
S. 69, Z. 9: lucus a non lucendo: Wald wird 'lucus' genannt,
weil es darin nicht hell ist; nach Quintilian, De institutione orat.

[Bd. b5, S. 453]

 


I, 6, 34. Die sprichwörtliche Redensart verspottet schlechte Etymologien.