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[GAA, Bd. IV, S. 109]

 


äußerer Erscheinung zwar etwas anders ausstaffirt worden, als
das Normal-Gretchen, — aber den Grundton haben sie doch
von dem lieben Kinde. Iphigenia in Tauris, die Prinzessin im
Tasso, und Philine im Meister entfernen sich am meisten davon,
5— aber bis auf die Philine, welche nur die Sinnlichkeit
Goethischer Gretchen besitzt, sind sie dafür auch ziemlich verzerrte
Gestalten geworden: Iphigenia eine ganz ungriechische,
sentimentale Priesterin, halb in Pylades verliebt, Tasso's Prinzessin
eine geist- und sentenzenreiche Schwätzerin, an einem
10Theetische recht unterhaltend. Daß Goethe bei einem Talente,
wie das seinige ist, dennoch hier und da außer Hauptfiguren,
wie die genannten, weibliche Nebenfiguren etwas anders zu
markiren wußte, fällt nur einem Kopfe auf, der nichts machen
kann.

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  Mit seinen Helden, Männern, lustigen Burschen geht es
Goethe wie mit seinen Damen, — sind die meistens ein
Gretchen, so sind die Herren meistens Er selbst. Es sind
begabte Menschen, richtig gezeichnet, dafür jedoch auch einer
wie der andere schwach, auch gutmüthig, so lange sie keinen
20Grund haben, ärgerlich zu seyn, höchstens mit einem Anklange
von Wehmuth dabei. Diesen Anklang wissen sie aber immer
bald zu vertreiben: Egmont streicht sich über die Stirn, und
fort ist alles, Faust vergißt sein dämonisches Wesen bei Liebeständeleien
und Blocksbergsspectakeln. Werther, Goetz, Wilhelm
25Meister, Söller ect., sind es nicht Leute nach demselben Modell?
Orest und Tasso dazu, nur schwazt letzterer etwas mehr als
die anderen.

  Dennoch bleibt im Munde seiner Kritikaster Goethe noch
stets objectiver als Schiller.

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  Nur in den kleineren, lyrischen und erzählenden Gedichten
Goethe's, möchte diese größere Objectivität statt finden. Diese
Gedichte entstanden bei ihm aus augenblicklichem Gefühl.
Sobald er aber selbst in diesem Fache größere Compositionen
versucht, wie etwa die Braut von Corinth, wird er matt,
35verräth angestrengte, und doch nicht tiefe Ueberlegung, und
steht seinem großen Nebenbuhler weit nach. Da möchte denn
doch Mancher auch hier Schillers gedrängte Gedankenreihe,
geistvolle Auffassung, dramatische Berechnung und herrliche
Sprache, deren Klänge schon an sich, fast so wie die Bibelübersetzung
40von Luther, das Herz erheben, den Goethischen
Versuchen vorziehen.