| [GAA, Bd. IV, S. 31] Gegensatz und rettet ihn oft vom „Versauern“. So geschah es mit dem französischen Trauerspiel bei den Deutschen, welche, beiläufig gesagt, in der Politik wohl den wenigsten, in Kunst und Wissenschaft aber den größten Muth unter 5den Völkern haben. Der Trab der deutschen (ich sage der deutschen) Alexandriner fing mit Recht an zu langweilen, durch Bodmers und Klopstoks epische Werke erwachte die Aufmerksamkeit auf die englische Literatur, besonders auf den im Zuschauer von Addison zum erstenmale gewürdigten 10Milton. Das weitere Bekanntwerden der Manessischen Sammlung wirkte auf die Stimmung für die sogenannte Romantik ein. Durch Lillo (Verfasser des Kaufmanns von London) und Diderot war das bürgerliche Schauspiel mit dem Streben nach nackter Natürlichkeit aufgekommen. Aber eine bisher unbekannte 15Eigenthümlichkeit, hohe Romantik neben großer Na- türlichkeit, alle Fremdartigkeiten eines ausgezeichneten ausländischen Theaters, — kurz alles, wonach die neue Richtung des Zeitalters sich neigte, fand sich im Shakspeare vereinigt, und Lessing und Schröder wiesen dieser Richtung 20durch Wort und That in ihm die Befriedigung an. Der Deutsche glaubt sich so wenig originell, daß Originalität bei ihm einen gesuchten Einfuhrartikel bildet. Die Engländer lieferten damals wie jetzt auch hier die Hauptwaare. Mit Begierde wurde alles, was shakspearisch war, aufgegriffen, 25Shakspeares Werke erschienen in Übersetzungen und auf der Bühne, und ohne Zweifel zum Heil der im einseitigen Streben befangenen Zeit. Aus dem Ringen der französischen und englischen Schule konnte das Wahre, für uns Passende hervorgehen, wie einstens, um ein historisch genau treffendes, aber 30leider etwas juristisches Gleichniß zu gebrauchen, aus dem Streit der Proculianer und Sabinianer die Blüthe der römischen Jurisprudenz sich entfaltete. Das Volk ist eine wunderbare Erscheinung; die Individuen, aus denen es denn doch besteht, sind in der Regel nur 35mittelmäßig begabt und fassen das ihnen Dargebotene oft sehr flach und einseitig auf, — dennoch pflegt im Volke als Gesammtheit stets die richtige Ansicht, das wahre Gefühl vorzuherrschen. Man sage was man will: das deutsche Volk hat wohl 40den Shakspeare als eine neue interessante Erscheinung angeblickt, es hat seine Größe nicht verkannt, aber nie hat es |
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