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[GAA, Bd. IV, S. 78]

 


man sie aufbauet; das Ganze erfüllt den Beobachter mit
Wehmuth, nur Einzelnes gefällt. — Das hiesige Hoftheater
steht am unmittelbarsten unter der Leitung des Herrn
Directors Pichler, und ein Unglück wär' es, wenn wir
5ihn je verlieren sollten. Denn sind Einsicht, Praxis und, was
das Wesentlichste seyn möchte, Aufopferung alles pecuniären
und persönlichen Interesses herrliche Eigenschaften eines Bühnen
-Unternehmers, so hat Herr Pichler in Hannover, Pyrmont
und hier diese genug bewährt. — Die Oper verdrängt überall
10das recitirende Schauspiel, nur unbemittelte, wandernde
Truppen beschäftigen sich vorzugsweise mit dem letztern —
weil ihnen das Orchester fehlt. Es ist zu hoffen, daß diese
Wanderjahre eben so wie vor einem halben Jahrhundert wieder
zu Rang und Meisterschaft führen werden. Auch bei
15unserm freigebig dotirten Theater herrscht die Oper vor. Ich
will indeß des Schauspiels zuerst erwähnen.

  Den Damen laß' ich den Vorrang, jedoch nur aus Höflichkeit,
denn in der That sind sie der schwächste Theil im redenden
Drama. Eine Mad. Lorzing ersetzt uns den Verlust
20der nach Breslau abgegangenen Dem. Klingemann mit weinerlichem
Vortrage, [S. 396 b] nichtssagenden Gesten und charakterlosem
Spiele. Olga in Isidor und Olga, Bertha in der Ahnfrau,
Preciosa im Stücke gleiches Namens sind weiter nichts als
die nämlichen declamatorischen Phrasen von den Lippen der
25Mad. Lorzing. - Dem Herzinger, zweite Liebhaberin, besitzt
eben keine häßliche Figur, und bei dem heutigen Publiko sagt
das schon etwas. Auch gibt sie sich Mühe — das ist zu loben.
Ihr Talent schlummert noch; so weit Fleiß es ersetzen kann,
so weit wird sie stets das Mögliche leisten. Mad. Hoffmann
30 d. j. repetirt in ihren Darstellungen nichts anders als
ihre persönliche Manier, und das ist künstlerisch und ästhetisch
sehr wenig. Man wundert sich oft über die enorme geistige
Verdauungskraft so vieler Schauspieler, welche die heterogensten
Rollen zu verschmelzen und ohne Seelenschmerz
35zu reproduciren wissen. — Mad. Spengler spielt die Mütter
und zwar recht brav. Nur versteht sie sich noch nicht auf
die Aeußerlichkeiten ihres Rollenfaches. Mancher Gestus
erinnert daran, daß sie erst vor einem Jahre Primadonna
der Oper war, und die Runzeln, welche sie über den Lippen
40sich schminken wollte, sahen mehrmals einem Schnurrbart frappant
ähnlich. Das paßt für Mad. Spengler um so weniger,