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Nr. 218, siehe GAA, Bd. V, S. 260nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Christian von Meien (Detmold)
Brief

        Ewr Hochwohlgeboren

  konnte ich den Don Juan und Faust noch nicht gestern übersenden,
weil er erst nächsten Montag ankommen soll. Jedoch
mache ich mir eine Ehre daraus Ihnen vorläufig die nachfolgende
5Notiz der Redaction der Frankfurter Iris mitzutheilen,
de dato den 1st Jan. curr.

  „Das Publicum wird zum Voraus auf eine höchst merkwürdige,
durch poetische Schönheiten überraschende, durch die
frappante Darstellung des aufgefaßten Stoffes seltene Tragödie
10aufmerksam gemacht. Sie heißt: Don Juan und Faust
und erscheint binnen wenigen Wochen im Verlage der Hermannschen
Buchhandlung dahier. Beide Sagen sind zu einer
verschmolzen und bilden ein imposantes, den tragischen Sturz
der Sinnlichkeit und Uebersinnlichkeit verherrlichendes Gemälde,
15das um so interessanter, als es zugleich zur Bühnendarstellung
geeignet ist. Der Verfasser ist der durch seine
wildgenialen dramatischen Dichtungen bekannt gewordene
Grabbe, Auditeur in Detmold. Wir werden dieses Werk sobald
es ausgegeben ist, mit kritischer Ausführlichkeit, worauf
20es Anspruch machen darf, beleuchten.“

  Machen Sich Ewr Hochwohlgeboren darum keine zu große
Idee von dem Dinge, obgleich ich gleichfalls höre, daß ein
gewisser Rousseau in Frankfurt den Cyclus seiner dramatischästhetischen
Vorlesungen mit einer Section meines Faust eröffnen
25will.

Ich verharre hochachtungsvollst
                           Ewr Hochwohlgeboren
  Detmold d. 6t Jan. 1829    gehorsamster Grabbe.

  [Adresse:] Snr Hochwohlgeboren dem Herrn Regierungsrath
30von Meien allhier.

 


218.

H: Infolge Kriegsverlagerung zur Zeit nicht verfügbar.
F: DStBB (Wahrscheinlich verloren.)
D: Paul Friedrich: Neues von und über Grabbe. Zum hundertsten
Geburtstage des Dichters (11. Dezember 1901). Aus Grabbe-Handschriften.
In: Vossische Zeitung. Nr 579. 11. Dezember 1901. Morgenausgabe.

  Der Grisebachsche Text (vgl. WGr IV 259, unter Nr 52) hat vor
Jahren bei Einsicht in H an verschiedenen Stellen verbessert werden
können.

S. 260, Z. 4 f.: die nachfolgende Notiz: Sie findet sich auf der
vierten Seite der „Beilage zu Nro 1“ der „Frankfurter Iris“ vom
2. Januar 1829 und ist aus „Frankfurt a. M.“ datiert. Verantwortlicher
Redakteur der Zeitschrift war Karl Peter Berly (1781—1847),
Mitredakteur Johann Baptist Rousseau (1802—1867). Möglicherweise
ist die Notiz in der Kettembeil'schen Buchhandlung verfaßt oder
doch durch sie veranlaßt worden; siehe Verweis zum Kommentar S. 264, Z. 11—12.
S. 260, Z. 19 f.: mit kritischer Ausführlichkeit [...] beleuchten:
Dies ist nicht geschehen; vermutlich deswegen, weil die „Frankfurter
Iris“, deren Mit-Herausgeber Johann Baptist Rousseau war, mit dem
Monat Juni 1829 (Nr 78) ihr Erscheinen einstellte.
S. 260, Z. 22—25: daß ein gewisser Rousseau in Frankfurt den
Cyclus seiner dramatisch-ästhetischen Vorlesungen mit einer Section
meines Faust eröffnen will: Nach der Anzeige in Nro 15 der
„Didaskalia“ vom 15. Januar 1829, S. [4], hat Johann Baptist Rousseau
(1802—1867) die von ihm angekündigten Vorlesungen über
neuere Literatur Montag, den 19. Januar, im Saale des Museums
begonnen, in der ersten Vorlesung aber Uhlands Trauerspiel „Ernst
von Schwaben“ und sodann eine Abhandlung über den Begriff
einer dramatischen Nationalpoesie der Deutschen vorgetragen. Auch

[Bd. b5, S. 579]

 


als Thema der weiteren Vorlesungen des ersten Teils der Vorlesungen,
soweit sie den Anzeigen der „Didaskalia“ zu entnehmen sind
(sie fehlen für die zweite und zehnte) wird Grabbes „Don Juan
und Faust“ nicht genannt. Nach der Anzeige in Nro 60 der „Didaskalia“
vom 1. März, S. [4], begann mit der dreizehnten Vorlesung
ein zweiter Teil, für den sich aber in den „Didasklia“ keine
Anzeigen finden. Nach dem Beschlusse einer Korrespondenz-Nachricht
aus Frankfurt am Main vom Februar („Morgenblatt für gebildete
Stände“ No 46 vom 23. Februar 1829, S. 183—84) hatte
Rousseau, Mitredakteur der „Frankfurter Iris“, seine Vorlesungen
am 19. Januar im Saal des Museums (im englischen Hofe) begonnen
und bisher deren sechs, jedwede von zweistündiger Dauer, gehalten.
„In den beyden ersten“, so heißt es sodann wörtlich, „beschäftigte
sich R. mit einer Untersuchung über den Begriff einer dramatischen
Nationalpoesie, und in den übrigen wurden von ihm die Schriften
von Uhland, Oehlenschläger, Fouqué, Hebel, Tiek, Werner, Grillparzer,
Heine und Delavigne erklärt und besprochen.“ Ein zweiter
Bericht vom März findet sich unter den Korrespondenz-Nachrichten
der Nr 72 des „Morgenblattes“ vom 25. März, S. 288. Auch darin
wird der Name Grabbes unter den Autoren, über die Rousseau sich
während der letzten vier Wochen, „bald ausführlich, bald andeutend
“, verbreitet habe, nicht genannt. Es wird also wohl bei der
Vorlesung einiger Szenen aus dem Manuskript der Tragödie geblieben
sein, die für den 23. Januar angekündigt worden und von der
in den textkritischen Bemerkungen zu Nr 216 die Rede ist.