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Nr. 274, siehe GAA, Bd. V, S. 307nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Wolfgang Menzel (Stuttgart)
Brief

      Hochgeehrter Herr Hofrath!

  Ich muß Ihnen Dank sagen für die Anerkennung, welche
35Sie mir in Ihren Recensionen gewähren, oder vielmehr ich muß
das achten, und mein Gemüth oder was es sonst ist, zwingt

[GAA, Bd. V, S. 308]

 


mich, es Ihnen auszudrücken. Sie treffen scharf. Einiges, sey's
Lob, sey's Tadel, scheint mir zwar nicht immer unwiderleglich.
Aber urtheilt der Fremde am Ende über das Ich nicht besser
als das Ich selbst, welches fast stets ein Ich-Ich ist? Und muß
5man daher bei so geistvollen Männern, wie Sie, die ich in
ihren Arbeiten auch ohne Namensunterschrift oft erkannt habe,
nicht zweifeln, ob das Ich-Ich Recht hat, ja sogar vermuthen,
daß es Unrecht hat?

  Sie, mein hochgeehrter Herr, sind unter den Literatoren ein
10Character, — Ihnen wünschte ich eine Armee, — vielleicht
bin ich in manchen Weltansichten (nicht eben in literarischen)
sehr von Ihnen verschieden, — vielleicht wissen oder
fühlen Sie das, — vielleicht liebe oder hasse ich da, wo Sie
es umgekehrt machen, — aber Sie sind stark genug, Fremdes
15auch da anzuerkennen, wo es Ihnen vielleicht nicht fremd,
sondern auch widerwärtig seyn mag. Gibt es aber Widerwärtiges?
Wir betrachten die Kröte mit Ekel, — wie sieht
sie aber vielleicht uns an? — Ach Gott, alles ist am Ende
Eins. Wohl dem, der es einsieht.

20  Im Ernst: Folgen eines zerschmetterten Arms, Gicht, Biß
eines tollen Hundes, der hoffentlich nicht schaden wird, weil
Tollheit auf Tollheit wenig wirken kann, Blutspeien und
Geschäftsdrang, lassen mich nicht mehr und besser schreiben
als hier geschehen. Also seyen Sie fürerst mit meiner Hochachtung
25und meinem Dank zufrieden oder doch nicht ärgerlich
darüber. Ich bitte.

  — In diesem Augenblick kommen hier Zeitungen von Paris
an — die Stuarts von 1688? Charles war für Frankreich
stets ein ominöser Name, Charl. der Dicke, V, IX p p.
Detmold den 3ten Aug. 1830.    Ew. Wohlgeboren ergebenster
                             Grabbe (Auditeur).

 


274.

H: Nicht zugänglich.
E: Litteraturarchiv-Gesellschaft in Berlin.
D: Oscar Blumenthal,Nachträge zur Kenntniss Grabbes(Berlin,
Grote 1875), S. 29—30.
  D1:Briefe an Wolfgang Menzel I.(Mitteilungen aus dem Litteraturarchiv
in Berlin 1907. Sonderveröffentlichung. Berlin, Litteratur-

[Bd. b5, S. 620]

 


archiv-Gesellschaft.), S. 62—63, als Nr 49.
  D geht auf eine Abschrift von der Hand der Witwe Menzels
zurück, D1 auf das Original selbst. Der Text dieser Ausgabe folgt
D1, der vor Jahren bei Vergleichung mit der Handschrift zuverlässig
befunden worden ist.

S. 307, Z. 35: in Ihren Recensionen: Die „Dramatischen Dichtungen
“ sind in Nr 29 des „Literatur-Blattes vom 10. April 1829,
S. 113—16, besprochen, „Don Juan und Faust“ in Nr 74 vom
19. Juli 1830, S. 293—95, und „Kaiser Friedrich Barbarossa“ im
Anschlusse daran S. 295—96.
  Sie sind wiederabgedr. in: „Grabbes Werke in der zeitgenössischen
Kritik“, hrsg. von Alfred Bergmann, Bd 2, Detmold 1960, S. 23—30,
unter Nr 22, S. 89—100, unter Nr 20, Bd 3, Detmold 1961, S.
51—55, unter Nr 12.
S. 308, Z. 27: Zeitungen von Paris: Mit den Nachrichten über
den Ausbruch der Juli-Revolution, deren unmittelbare Ursache die
Ordonnanzen Karls X. von Frankreich vom 25. Juli 1830 waren.
S. 308, Z. 28 f.: die Stuarts von 1688? Charles war für Frankreich
stets ein ominöser Name: Auch die französischen Liberalen
machten diese Vergleichung; sie glaubten: „Englands Freiheit sei erst
durch die zweite Revolution von 1688 gesichert worden, folglich
müsse auch Frankreich das Zeitalter seiner Revolution durch ein
anderes 88 abschließen.“ (Vgl. Treitschke, „Deutsche Geschichte im
Neunzehnten Jahrhundert.“ T. 4. 7. Aufl. Leipzig, Hirzel 1919,
S. 10.)
S. 308, Z. 29: Charl. der Dicke: Karl III., seit dem 12. Jahrhundert
der Dicke genannt (839—888), der dritte Sohn Ludwigs des
Deutschen, im Februar 881 in Rom zum Kaiser gekrönt, vereinigte
fast das gesamte Reich Karls des Großen unter seiner Herrschaft,
verlor sie aber infolge seiner Schwäche und seines Siechtums im
Jahre 887 an den Herzog Arnulf von Kärnten.
S. 308, Z. 29: Charl. V: deutscher Kaiser (1500—1558). Gegen
ihn führte Franz I., König von Frankreich, von 1521 an vier Kriege
um das Übergewicht in Europa, die aber für Frankreich unglücklich
ausliefen.
S. 308, Z. 29: Charl. IX: König von Frankreich (1550—1574),
der zweite Sohn Heinrichs II. und der Katharina von Medici. Unter
seiner Herrschaft fand die Pariser Bluthochzeit statt, die jedoch
den inneren Frieden des Reichs nicht herstellte, sondern nur neue
Aufstände herbeiführte.