Nr. 482, siehe GAA, Bd. VI, S. 102 | 28. November 1834 | | Christian Dietrich Grabbe (Frankfurt a. M.) an Karl Leberecht Immermann (Düsseldorf) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Hochgeehrter Freund! Ich komme. Binnen wenigen Tagen bin ich da. Meine Menschenkenntniß betrog mich nicht. Ich hielt Sie für ernst, fest und treu, nach Ihren Werken, nach Ihrem Gesicht. Hinter 5solchen Mauern wohnt grade der Edelsinn. Mit dem Stübchen und 6—7 Thaler monatlich bin ich zufrieden. Nein, ich bin mehr als das, ich bin erfreut, und da entstehen jedesmal neue Ideen bei mir, fast Blumen unter'm Maischauer. Nämlich: Sie, Uechtriz und ich, sollten wir nicht nach Art der alten Engländer 10und der neuen Franzosen (Shakspeare und Johnson, Fletcher und Beaumont, Scribe und Consorten) gemeinschaftlich eine Comödie, oder gar Tragödie bilden können, worin jeder seine Partien und Charactere ausmalte, jedoch unter der Bedingung uns wechselseitig zu critisiren und auszubessern? 15Dieses Triumvirat würde gefallen, auch von Verlegern und vom Theater belohnt werden. — Dem Ernsten, was jeder für sich behalten will, oder eben so dem Komischen (was auch oft eine Maske, wohinter ein trauriges Gesicht steckt, ist) schadet's nicht. Es wird in der Stille desto [bes]ser ausgearbeitet, um 20zum Wetteifer mit dem Gemeinschaftlichen verglichen zu werden. Der Gr. Platen, Hochgeboren, haben mich auch angezapft, oder ich müßte mich sehr irren, wenn er in der jämmerlichen Ihrer und meiner Art nachgearbeiteten Liga von Cambray 25nicht bei den auf einmal vorwärts gehenden „Krabben“ meiner gedacht. Sie hätten ihm auch nicht antworten sollen, der Verseschmidt ist's nicht werth, jedoch sind Sie gerechtfertigt in dem Sonnett worin Preußens Leiden, Fahnen und Siege rollen. Da ist der Aerger ein Keim der besten Poesie geworden. 30 Der Buchhändler Schreiner wird wohl mit meinem Hannibal zufrieden seyn. Ich kann ihm denselben aber nicht überschicken, weil ich keine Zeit habe, ihn abschreiben zu lassen. Ich bringe ihn mit. Schlecht muß er nicht seyn, quia mir 2 Scenen daraus gestohlen sind, und man stiehlt doch keine Kröten, sondern 35eher Gold. Frankfurt am Main, 28 Nov. 1834. Ihr Grabbe. [Adresse:] Sr Wohlgeboren dem Herrn Oberlandesgerichtsrath 40K. Immermann in Düsseldorf. Frei. [GAA, Bd. VI, S. 103] |
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482.
H: 2 Bl. in 40. 2½ S.; auf S. 4 die Adresse.
F: GrA
T: TdrO S. VI—VII.
[Bd. b6, S. 445]
Poststempel: FRANKFURT 28. NOV.
S. 102, Z. 11 f.: gemeinschaftlich] nicht gemeinschaftlich H
S. 102, Z. 14: Bedingung,] Bedingung H
S. 102, Z. 19: [bes]ser] an dieser Stelle ist das erste Blatt mit
Textverlust beschädigt.
S. 102, Z. 10: Johnson: Man darf wohl annehmen, daß Grabbe
Ben Jonson (um 1573—1637) meint, den Verfasser der Lustspiele
„Every man in his humour“ (1598), in dem Shakespeare eine Rolle
gespielt hat und das durch dessen Einfluß auf die Bühne gekommen
sein soll, „Every man out of his humour“ (1599), „The poetaster“
(1601), „Volpone, or the fox“ (1605) und anderer, sowie mehrerer
Trauerspiele, wie z. B. „Catilina“ (gespielt 1611), in dem er mit
Shakespeares „Julius Cäsar“ wetteifert.
S. 102, Z. 11: Fletcher und Beaumont: Siehe die Anm. zu Bd 4,
S. 40, Z. 29. ( S. 406.)
S. 102, Z. 11: Scribe und Consorten: Die ungemeine Fruchtbarkeit
des französischen Theaterdichters Eugène S. (1791—1861)
ist nur dadurch zu erklären, daß er eine förmliche Dramenfabrik
schuf, in der das Prinzip der Arbeitsteilung herrschte. Die dem
Werke zu Grunde liegende Idee und den Plan zu erfinden, den
Dialog zu formen, die Couplets beizusteuern, die Schlagwörter auszudenken
u.s.w. war Sache verschiedener Mitarbeiter, von denen,
um nur einige zu nennen, Jean-François-Alfred Bayard, Germain
Delavigne und Anne-Honoré-Joseph Duveyrier (Pseudonym: Mélesville)
die bekanntesten sind.
S. 102, Z. 22: haben mich auch angezapft [usw.]: Das Zitat findet
sich im zweiten Akte des geschichtlichen Dramas „Die Liga von
Cambrai“ (Frankfurt am Main, Sauerländer 1833), S. 36. Auf die
Worte des Dogen:
„Man weiß bereits, daß unsern Vicedom
Alfons der Stadt verwiesen.“
antwortet der Senator Trevisani:
die Krabben
Gehn endlich vorwärts? Kehrt Natur sich um?“
Nach dem Charakter des Platenschen Werkes und dem Zusammenhange,
in dem die fragliche Stelle steht, muß man Grabbes Vermutung,
daß sie eine Anspielung auf ihn enthalte, für ungerechtfertigt
halten.
S. 102, Z. 26: Sie hätten ihm auch nicht antworten sollen: In
der „literarischen Tragödie“, betitelt: „Der im Irrgarten der Metrik
umhertaumelnde Cavalier“ (Hamburg, Hoffmann & Campe 1829).
S. 102, Z. 27 f.: in dem Sonnett, worin Preußens Leiden, Fahnen
und Siege rollen: Diese Bemerkung paßt noch am ehesten auf das
Sonnett „Unterricht“, das dreizehnte der soeben genannten Streitschrift
(S. 31).