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Nr. 489, siehe GAA, Bd. VI, S. 110nothumbnail
Heinrich Christian Albrecht Clemen (Lemgo) an Karl Leberecht Immermann (Düsseldorf)
Brief

Lemgo d. 13 Dec. 1834 Samstag
                    Lieber Immermann

  Ihren Brief vom 10ten erhielt ich gestern und schreibe Ihnen
gleich heute, wo ich einige Muße habe, um Sie, soviel an mir
20ist, recht bald in den Stand zu setzen, Ihre Maßregeln richtig
zu treffen. Ich rede über die Sache selbst lediglich aus Interesse
für Sie, als einen Freund, dem ich zu dienen und förderlich
zu seyn wünsche; ohne dies würde ich mich nicht darüber
äußern.

25G.'s Motive zur Nachsuchung seiner Entlassung kann natürlich
in Wahrheit nur er selbst wissen. Wörtlich gelautet
hat das Gesuch, wie mir ein Unterrichteter sagt: „Mein Herz
ist Blut; ich bitte um meinen Abschied.“ Dies deutet nun auf
sein Verhältniß zu seiner Frau, die er etwa vor einem Jahre
30genommen, und mit der er gleich das seltsamste Leben begonnen;
wie denn auch schon auf Trennung von ihrer Seite
angetragen ist. Vielleicht und wahrscheinlich ist seine Verheirathung
und das Verhältniß zu seiner Frau auch zunächst
der Grund, der ihn nun getrieben hat, Detmold
35zu verlassen. Er war hier Auditeur, und hatte etwa ein jährl.

[GAA, Bd. VI, S. 111]

 


Einkommen von 200—250 Rthlrn. Die Stelle ist nun definitiv
wieder besetzt. Indeß, wenn er zurückkehrt, so wird sich
unstreitig gleich allerley Günstiges für ihn aufthun; denn er
ist in D., trotz seiner oft ekelhaften Schweinerey in der Conversation
5sehr wohl gelitten; keineswegs aber etwa seiner Genialität
wegen angefeindet und verfolgt; vielmehr soll der
Fürst persönlich sich für ihn interessiren, eine gewiß sehr seltene
Auszeichnung, und würde demnach auch vielleicht etwas
für ihn thun, wenn er zurückkehrte.

10  Das Hauptmittel zu seiner Wiederherstellung, wonach Sie
auch fragen, dürfte, wie ich glaube nach dem Ausspruch aller
Sachverständigen, seyn, daß er sich von innen her ermannte
und ein anderes Leben anfinge. Wenn er nach D. zurückginge,
müßte er freylich zunächst Advocatur treiben, wenn er nicht
15von dem Vermögen seiner Frau, welches etwa 8—10000 Rthlr.
beträgt, leben will oder kann. Gelegentlich aber würde ihm
eine Anstellung nicht entgehen. An der Möglichkeit einer
solchen innern Kur indessen muß ich für meine Person sehr
zweifeln: Sie werden selbst sehen und urtheilen. Ich glaube
20auch, daß hier der Schlüssel zu seiner Abdankung und Abreise
liegt. Unglaublich ist es, mit welcher Frivolität er vom Tage
seiner Verheirathung an das eheliche Leben und sein Weib
selbst vor bekannten u. fremden Ohren profanirt hat, so daß
sich selbst rohe Menschen mit Widerwillen u. Ekel weggewandt
25haben. Dies scheint mir einen entsetzlichen innern Verfall und
eine sittliche Erschlaffung zu bekunden, von der ich nicht weis,
wie sie sich mit guter Genialität verträgt, welche ich allein
anerkenne.

  Schließlich wiederhole ich, daß seinem Weggehen von D.
30keineswegs Anfeindung, Verläumdung p. zum Grunde liegt;
ich weis vielmehr gewiß, daß ihm unter den dortigen ältern u.
jüngern Beamten viele sehr gewogen u. befreundet sind, und
daß es allgemein befremdet, daß er fortgegangen ist. Ist er
also ein Märtyrer seines Genius, so hat er es lediglich mit sich
35selbst zu thun.

  Ich bin mit meiner Frau und meinem Kinde gesund und bei
tüchtiger täglicher Arbeit wohl auf. Für nächsten Sommer erstrebe
ich eine Reise an den Rhein, wo ich auch Sie zu
begrüßen und mich Ihrer Person zu erfreuen hoffe. Schön wäre
40es, wenn wir mal wieder so einen Mittelgipfel des Lippischen

[GAA, Bd. VI, S. 112]

 


Landes mit einander beträten, wie damals, als Sie sich unseres
Geländes so redlich freueten.

                    Mit treuer Freundschaft
                                
5                                

[Adresse:] Dem Herrn LandgerichtsRath Immermann Wohlgeboren
Düsseldorf frey

 


489.

H: Doppelbl. in 40; 2 S., auf S. 4 die Adresse.
F: IW fol. 7 u. 10. Poststempel: LEMGO 15/12.
D: Alfred Bergmann: Grabbes Düsseldorfer Anfänge. Zur Erinnerung
an des Dichters Ankunft in Düsseldorf vor hundert Jahren.
(In: Düsseldorfer Nachrichten. Jg. 59. 1934. I: Nr 616. 7. Dez.
Ausg. A. Morgen-Ausg. Beil.Rheinisches Land“. II: Nr 618. 8.
Dez. Ausg. A. Morgen-Ausg. Beil.Rheinisches Land“.) II.

S. 110, Z. 18: Ihren Brief vom 10ten: Dieser ist nicht bekannt;
wie denn überhaupt vom literarischen Nachlaß des Prorektors keine
Spur zu entdecken ist.
S. 110, Z. 26 f.: Wörtlich gelautet hat das Gesuch: Siehe Brief
Verweis zum Kommentar Nr 437.
S. 110, Z. 31 f.: wie denn auch schon auf Trennung von ihrer
Seite angetragen ist: Dies trifft nicht zu. In Wirklichkeit ist Louisens
Antrag auf Ehescheidung erst am 6. August 1836 beim Fürstlich
Lippischen Konsistorium eingegangen; siehe Verweis zum Kommentar Nr 727.
S. 112, Z. 1 f.: wie damals, als Sie sich unseres Geländes so
redlich freueten: Immermann erzählt von seinem Aufenthalt im Lippischen,
der in den Herbst 1831 fällt, in seinem „Reisejournale“,
und zwar im Briefe aus Paderborn, dem dritten derer, die an das
siebente Kapitel des dritten Buches angehängt sind. Er fährt über
den Deister, sieht die Weser und Hameln nur im Abendschimmer
und schläft in einem lippischen Grenzörtchen. Ziemlich früh am
andern Tage ist er in L., womit Lemgo gemeint sein wird. Dort

[Bd. b6, S. 450]

 


sucht er gleich seinen „alten Bekannten aus einer rüstigen Zeit“ auf,
da er noch geglaubt hatte, „daß der reinen Gesinnung die Welt
gehöre“; eine Persönlichkeit, in der man wohl Clemen selbst zu
erblicken hat, der auf S. 24 seiner kleinen Schrift „Ein Stük Geschichte
der ersten deutschen Burschenschaft“ mit dem Untertitel
„Aus meinem Leben“ (Lemgo, Herking 1867) seiner in das Jahr
1824 fallenden Gefangenschaft auf dem Schlosse Köpenik kurze Erwähnung
tut. Von Lemgo aus begibt sich Immermann nach Detmold.
Unterwegs nähert er sich der Senne, der „Rosse-weidenden
Gegend des Lippischen Landes“. In Detmold macht er die Bekanntschaft
Grabbes. („Schriften“ Bd 2, Düssseldorf, Schaub 1835, S.
444—51.) Vgl. auch „Grabbe in Berichten seiner Zeitgenossen“ S.
85—87, unter Nr 65.