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[GAA, Bd. IV, S. 168]

 


2.
Handschrift Stadt-Theater.

  Mittwoch, den 2. Dec.: König Lear. Trauerspiel in einem
Vorspiele und 5 Aufzügen von Shakspeare, übersetzt
5von J. H. Voß, für die Darstellung eingerichtet von A.
West. In die Scene gesetzt vom Regisseur Herrn Henckel.

  Der 2te Dec. ist Napoleons Krönungstag und der Tag von
Austerlitz. Unser Lear erinnerte indeß mehr an die Niederlage
des Corsen am 18ten October 1813. Ehre der unsäglichen
10Mühe, mit welcher das Stück in die Scene gesetzt war
— Was hilft aber Mühe, wenn ihre Absicht nicht verwirklicht
wird?

  Das Stück selbst: seine Grundlage ist marionettenmäßig:
Wo der König, welcher unter hohlen Worten an seine Kinder
15eine Krone vergibt, als wäre sie ein zerbrochener Zuckerkuchen?
Auch Ludw. Tieck hat dieß gemerkt, sonst hätt' Handschrift er
in seiner englischen Schaubühne dem Shakspeare nicht noch
einen schlechteren angeblich älteren Lear untergeschoben, in
welchem es freilich anfangs vernünftiger hergeht als in
20diesem jüngeren. Denn, setzt man die närrischen Grundlagen
aus den Augen (wie albern die Einleitung, wie toll des Königs
plötzlicher Haß gegen Cordelia) so wächst immer das jüngere
Stück stellenweise zu einer Größe, wie kaum eine andere
Tragödie sie bietet. Lear ist von Haus aus Handschrift kindisch, seit Ende
25des zweiten Acts merkt er das, ohne es wissen zu wollen
oder zu können, und geräth nun in Wahnsinn, bei dessen
Ausbrüchen ihn die aufgeregte Natur mit Sturm und Donner
begleitet, und sein Verstand die feinsten Bemerkungen macht,
während sein Herz verblutet, eine Wahrheit in der Characterschilderung,
30welche man im ersten besten Irrenhause beobachten
kann.

  Hr. Henckel nahm den Lear beim ersten Auftreten zu
sehr als einen stolzirenden König, und nachher, im Handschrift Wahnsinn
accentuirte und declamirte er, als sey er plötzlich vernünftiger
35geworden, und kennte jedes Komma und jeden Gedankenstrich
seiner Redweise. Hätte Hr. Henckel je Wahnwitzige
geseh'n, würde er wissen, daß monotones Flüstern
sie am besten bezeichnet, und will er auf das Publicum wirken,
so brauche er einfache, naturgetreuere Mittel als bei seinem

 

 
 
Werktext:Anmerkungen: