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Nr. 148, siehe GAA, Bd. V, S. 201thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief


Handschrift Westphalia, eine Zeitschrift — 5. Jan. 1828. 1stes Stück.

                    Zur Litteratur.
            Grabbe's dramatische Dichtungen.
                      (2 Theile.)

5  „„Der Verfasser, welcher mit diesen Werken zum erstenmale
und auf eine ausgezeichnete Weise sich dem Publicum vorstellt,
ist unser junger Landsmann, wie wir in Detmold geboren und
lebt jetzt (etwa 25 Jahr alt) in seiner Vaterstadt als Advocat.
Schon früh zeigte er Anlage zum Dichter und bei seinen
10academischen Studien in Leipzig und Berlin beachtete er die
Kunst immer neben seinen Fachwissenschaften. In oder gleich
nach diesen Jahren (1822) entstanden die hier mitgetheilten
Arbeiten. Sie blieben einstweilen im Pulte liegen und der Verfasser
äußert selbst, daß er in den nächsten fünf Jahren wenig
15aesthetica angesehen habe (II, 343.) Er gewann mitlerweile
Anerkennung als geschickter und fleißiger Rechtsanwald. Im
vorigen Jahre bot sich ihm Gelegenheit dar (Th. 1. Vorwort,)
jene früheren Producte drucken zu lassen und er legt sie, ohne
die etwa gewonnene größere Reife mancher Ansichten und Fertigkeiten
20zu mehr als einer Revision zu benutzen, dem Publicum
als Talentprobe vor. „Erklärt die öffentliche Stimme, daß
gute Erwartung von seinen dichterischen Anlagen zu fassen ist,
so wird er diese Erwartung bald mehr befriedigen, als er
bisher gethan hat. Er würde vielleicht schon jetzt Proben darüber
25abgelgt haben, aber gesteht es offenherzig, daß seine
Individualität und seine bürgerliche Stellung ihm nicht erlauben,
eher einen weitern Vorschritt zu machen, als bis durch
die vorgelegten früheren Producte die Anfänge seiner litterarischen
Verhältnisse zum Publicum festgesetzt sind.“ Auf
30ähnliche Weise erklärt sich das Vorwort zu der unvollendeten
Tragödie Marius und Sulla (II. 193): „sie wird dem
Publico mit der Bitte dargeboten, zu entscheiden, ob sie der
Vollendung werth ist oder nicht? Der Verfasser wird dem
Urtheil, es heiße wie es wolle, folgen.“

35  Handschrift Dieses mußten wir, theils des Verfassers, den wir übrigens
nicht persönlich kennen, theils unsrer selbst wegen bemerken,
um den Lesern ein Urtheil über unser Urtheil möglich zu
machen. Dem Landsmanne wird die Unpartheilichkeit schwer,
weil entweder Eifersucht und Neid ihn übelwollend, oder
40Vorliebe zu nachsichtig stimmen und er thäte darum in der

[GAA, Bd. V, S. 202]

 


Regel besser, zu schweigen. Indem wir aber als Redacteur
bestimmt zur Abgabe unsers Urtheils aufgefordert wurden,
können wir uns derselben nicht entziehen und hoffen auch
wenigstens unser Streben nach voller Gerechtigkeit den Verständigen
5zu bewähren.

  Es mögen zuförderst die einzelnen Stücke gewürdigt werden
und dann diejenigen Bemerkungen, welche die Gesammtheit
betreffen um so faßlicher nachfolgen.

  1. Herzog Theodor von Gothland, eine Tragödie in fünf
10Acten (Th. 1. ganz; 400 S.)

  Eine Tragödie, die wir theils ihres Umfangs, theils ihres
Baues und theils endlich ihres Charakters wegen für kein
Theaterstück im nächstliegenden Sinne halten können, aber
nichts desto minder für eins der ausgezeichnetsten Dramen,
15die nach Schillers Tode erschienen, erklären müssen. Tiek, dem
der Verf. dieselbe in der Handschrift mittheilte und dessen
in Antwort gegebenes briefliches Urtheil darüber dem Werke
vorgedruckt ist, hat den eigentlichen Geist derselben offenbar
gar nicht verstanden und thut dem Verf. mehr Unrecht als
20Ehre an. Es wundert uns darum, wie letzterer den Aeußerungen
eines Dichters, dessen kritisches Talent sich nie als
ein sonderliches erwieß, sichtlich eine solche Bedeutung beimessen
konnte. Entweder ist dies eine übertriebene Bescheidenheit,
oder ästhetische Unklarheit, wenn nicht eine Mischung
25von beiden. Wir aber müssen eben deswegen ihn hier zunächst
gerade gegen Tieks Mißdeutung in Schutz nehmen.

  Die Idee des Stücks ist eine ächt, ja unterscheidend christliche
und von dem Vf., was die Hauptumrisse betrifft, sehr
rein aufgefaßt und sehr folgerecht, im Allgemeinen auch sehr
30poetisch ausgeführt.

  Das wahrhaft Tragische ist, wie wir dieses im fünften
Theile der Wanderjahre weiter ausführten, immer ein göttlich
Gegebenes, wobei blos der Glaube des Menschen vorausgesetzt
und angesprochen wird, um es aufzufassen. Die eigentlich
35religiöse Poesie ausgenommen, ist darum keine andere Art von
Dichtungen dem geltenden Glauben enger verknüpft, Handschrift als die
Tragödie. Mit dem sich verändernden Geist des Glaubens
ändern sich auch die tragischen Ideen, welche der Dichter und
das Volk verstehen, und die Idee des Schicksals z. B. ist so
40wenig bei den Griechen als bei den Muhamedanern oder
Indiern (Sakontala) dieselbe, wie sie, um anzusprechen, bei

[GAA, Bd. V, S. 203]

 


dem Christen seyn muß. Unsere frühere Behauptung, daß die
christliche Religion auch die schönste sei und daß es nur an
der Auffassung des Dichters liege, um dieses darzuthun, bewährt
sich hier besonders. Sie hat vornämlich drei tragische
5Ideen in den Kreis der Volksansichten eingeführt, denen keine
andere gleich kommen und die auch mit hundertfachen Variazionen
allen gelungenen und mit dem allgemeinen Beifall
gekrönten neueren Tragödien, so wie zahllosen Romanen und
Novellen zum Grunde liegen. Ob dieses mit oder ohne Bewußtseyn
10des Dichters war, gilt hier gleich; ja das bewußtlose
Aufnehmen beweißt für unsern Hauptsatz fast noch mehr
als das absichtliche.

  Die erste Stelle in dieser Dreizahl der durch das Christenthum
geltend gemachten tragischen Ideen gebührt dem Ur-
15sprung des Bösen oder dem Abfall vom Guten
oder von Gott. Unsere Religion zuerst stellt das Böse
dem Guten diagonal entgegen und zwar nicht im Sinne des
Zerduscht oder des ebenfalls persischen Manichäismus, sondern
wie die neuere Chemie die Kälte dem Wärmestoff, sodaß
20das Böse erst durch die Verneinung des Guten oder durch
einen Abfall von diesem, gleichwie die Kälte durch das Verschwinden
des Wärmestoffs, erklärt wird. Sie lehrt also nicht
einen Gott und Gegengott, wohl aber eine vom Göttlichen
abgesunkene Gewalt, die sich für den in der Mitte stehenden
25Menschen in einem Gegensatze als böses Prinzip conzentrirt.
Characteristisch ist in dieser Vorstellung, daß das Böse einst
gut war aber einmal abgefallen einem entgegenstehenden Extreme
zueilt, von welchem aus es sich gezogen fühlt. Das ist
die Lehre vom Teufel, der Hölle und Quaal, die in der
30Geschichte des Christenthums (d. i. in dessen Fortleben unter
den sich zu ihm bekennenden Völkern) eine so bedeutende
und merkwürdige Erscheinung ist. Es ist aber auch die Lehre
vom Fall der ganzen Menschheit, wie des einzelnen Menschen,
Handschrift sodaß jener Fall der Engel als symbolisirte Abstraction oder
35mindestens als Parallelismus dieses letztern gedeutet werden
könnte.““

                (Fortsetzung folgt.)
      Bester, liebster Freund,

  obige Recension ist vom Redacteur der Westphalia, Herrn
40Fr. Pustkuchen, Verf. der falschen Wanderjahre. Er hat das
höchste gesagt, was Er (dessen schriftstellerischen Character

[GAA, Bd. V, S. 204]

 


Du kennen mußt) sagen konnte: er findet Tiecks Lob zu
schlecht, hält mich für bedeutend nach Schiller (sein geachtetster
Dichter) und findet den Gothland — — — echt christlich.
Ihm huldigt bekanntlich die pietistisch poetische Partei. —
5Ich bin begierig auf die Continuation. — Die Geschichte im
Gesellschafter? Gubiz schickt sie mir eben zu. Sehr brillant.
Aber ich selbst? Wahrhaftig nicht, jedoch zweifelsohne die
Veranlassung, denn (ich müßte mich sonst ungeheuer irren)
es ist Köchy nach meiner Instruction und mit eigenem Geiste
10dazwischen. Das ist besser als wär' ich's selbst, und Du siehst,
er versteht's. — Wenn Du sie noch missen kannst,
so könnt' ich noch ein paar Exemplare meiner Werke gebrauchen,
wenigstens 2 Gothlands, indem ich den 2ten Theil
durch ein Versehen, veranlaßt vom Buchbinder, doppelt erhalten
15habe. Übrigens nochmals: Du mußt sie bequem
missen können; nöthigenfalls leg ich meine Feuerfunken
auch ohnedem an. — Apropos, mein Vorfahr ist todt, ich bin
jetzt nicht mehr bloßer Advocat, sondern „Auditeur“. —
Unsere Hofschauspieler mußten nach Münster, — sie zittern
20vor mir, — Münster ist Westphalens erste Stadt, es ist von
mir gesorgt, daß sie dort meinen Namen hinbringen, — ja,
ich habe ihnen mit einem Prologe gedient, der bereits großen
Beifall dort erhalten. — Immer Feuer angelegt, sey es noch
so klein. — Betreib Du auch die Recensionen und theile sie
25mir mit; Kunz muß und wird wohl bald losgehen, — das
Morgenblatt wirkt. — Und großer Gott! wenn sie nur schimpfen!
Mehr verlange ich Handschrift nicht, — dann stehe ich [auf dem
Posten des] Vertheidigers. Der Vertheidiger ist ein Narr, der
nicht bald zu[m An]greifer wird. — Auch Ruhe wird nun
30ziemlich bald; verlaß Dich darauf, ich fange bald an weiter
zu poetisiren, könnte auch wissenschaftelisiren. — Der Köchy
hat mir noch keine Antwort geschrieben, soll aber noch in
mehreren Blättern auflodern. — Immer und ewig die verwünschte
Post: sie geht nämlich Morgens 8½ Uhr fort und
35ich stehe frühestens 8 Uhr auf, so sehr ich mir auch das
Gegentheil vornehme. Ich habe ein schläferiges Herz, es hat
Rostflecken, ich muß es putzen. — Ich möchte die Augen des
Herrn von Uechtriz sehen. Der Sclave! Soll ich dem Börne
um ihn zu reitzen einen Brief schreiben? Es wird mir aber
40schwer werden. Bei Katholiken gib mich nur für bekehrt
und katholisch aus, und bei Juden meinetwegen für einen

[GAA, Bd. V, S. 205]

 


Juden, — was frag' ich nach der Chaussée, wenn ich nur die
Stadt erreiche. — Pass' auf, mit meiner Kritik stifte ich
noch Unheil, — wir müssen einige zerreißen, ich bin hungrig,
bereits todtes Aas mag ich nicht. Auch ein gewisser Herr
5Wessenberg (der Pfaffe) mit seinen Schriften über Theater
und Romane (so gepriesen!) soll an mich denken, und, was
die eigentliche Tendenz ist, mit ihm eine ganze Classe. Jede
Religion ist trefflich, wenn man sie trefflich interpretirt, —
Herr Gott
                                 die Post!
                           Ich schließe, bald mehr,
                                   
                             schreib Du bald
Detmold den 13t [richtig: 12t] Januar.    Deinem
            1828                    alten schnöden Grabbe.

  [Adresse:] Handschrift An die Hermannsche Buchhandlung (Herrn
Buchhändler Kettembeil) Wohllöblich in Frankfurt am Main.
Frei.

 


148.

H: 1 Doppelbl., 1 Bl. in 40; 5 S., Adresse auf S. 6. Die Abschrift
der Rezension von der Hand eines Schreibers. Auf S. 6 Vermerk
des Empfängers: 1828 Grabbe in Detmold den 13. Jan. Abgangsstempel:
DETTMOLD 12/1 Ankunftsstempel: FRANKFURT 16.
IAN. 1828
F: GrA
D: WBl IV 422—27, als Nr 13.

S. 202, Z. 31: Tragische] tragische H
S. 204, Z. 27 f.: [auf dem Posten des]] der Brief ist an dieser
Stelle mit Textverlust beschädigt; in WBl (IV 427,7) findet sich die
ergänzte Stelle noch. Gleiches gilt von der folgenden Ergänzung,
Z. 29.

S. 205, Z. 14: 13t [richtig: 12t]] Zur Umdatierung vgl. den
Abgangsstempel; daß das Datum noch weiter zurückverlegt werden
müsse, ist wohl nicht wahrscheinlich.
S. 202, Z. 31 f.: wie wir dieses im fünften Theile der Wanderjahre
weiter ausführten: Vornehmlich im zweiten Kapitel (S. 38—47),
im Gespräche zwischen Coucy, Ludolf, Wilhelm Meister und Junius.
Aber auch an späteren Stellen (S. 102—06 u. 169—71) wird dieses
Problem gestreift.
S. 202, Z. 41: Sakontala: „Çakuntalâ“ ist eines der Dramen des
indischen Dichters Kâlidâsa. Die Titelheldin ist die Pflegetochter
des frommen Einsiedlers Kanva. König Duhschanta vermählt sich
mit ihr, erkennt sie aber, als sie an seinen Hof kommt, infolge
eines Fluches nicht wieder. Die Verzweifelnde wird in das Reich
der Genien entrückt, nachher aber ein verlorener Erkennungsring
wiedergefunden und dadurch der König mit seiner Gattin wiedervereinigt.

S. 203, Z. 18: Zerduscht: Zerdusht heißt bei den Parsen der
Stifter der dualistischen Glaubenslehre der alten Iranier, im Zendavesta
Zarathushtra genannt.
S. 203, Z. 18: des ebenfalls persischen Manichäismus: Die Religionsform
des M. war aus dem babylonischen Gnostizismus erwachsen
und mit christlichen Vorstellungen durchsetzt. Sie blühte im
dritten Jahrhundert auf, verbreitete sich rasch von den Grenzen
Indiens bis nach Nordafrika, wurde aber seit 377 von der christlichen
Kirche und bald auch im Perserreiche hart verfolgt und schließlich
unterdrückt. Ihr Stifter Mani (Manes, Manichäus) war 215/216
von persischen Eltern in Babylonien geboren, trat 242 mit seiner
Lehre hervor und fiel 276 dem Hasse der persischen Priester zum
Opfer. Das charakteristische Merkmal des M. ist ein ausgeprägter
Dualismus. Er nimmt zwei Grundwesen an, die von Ewigkeit zu
Ewigkeit räumlich nebeneinander bestehen und einander direkt entgegengesetzt
sind.
S. 204, Z. 5 f.: Die Geschichte im Gesellschafter: Die mit „Pr.“
gezeichnete Besprechung findet sich in der „Zeitung der Ereignisse
und Ansichten“, der Beilage zum 205ten Blatte des „Gesellschafters“
vom 24. Dez. 1827, S. 1023—28. Zu den von Grabbe vermuteten
Zusammenhängen läßt sich, aus Mangel an Brief- und anderem

[Bd. b5, S. 544]

 


Material, nichts sagen; auch Gubitzens Bemerkungen („Erlebnisse“
Bd 2, Berlin 1868, S. 254) geben keine Aufklärung. In Goed.2 VIII,
637 wird unter 1) die Vermutung ausgesprochen: „wahrscheinlich
Köchy, von Grabbe 'instruiert', d. h. der größte Teil der Rezension
ist Selbstberäucherung.“
S. 204, Z. 22: mit einem Prologe: Dieser hat sich, soweit bekannt,
nicht erhalten. Unterm 20. Oktober 1841 berichtet Louise Christiane
Grabbe an Freiligrath, sie habe in Mannheim, wo sie zu Besuch
war, den Schauspieler Braunhofer aufgesucht, dieser habe sich des
einst für ihn gedichteten Prologs noch recht gut erinnert, ihn aber
nicht mehr besessen. („Ferdinand Freiligraths Briefwechsel mit der
Familie Clostermeier in Detmold“, hrsg. von Alfred Bergmann,
Detmold 1953, S. 149.)
S. 204, Z. 32 f.: soll aber noch in mehreren Blättern auflodern:
Irgendwelche Besprechungen der „Dramatischen Dichtungen“ aus
Köchy's Feder sind nicht bekannt.
S. 205, Z. 4 f.: Herr Wessenberg (der Pfaffe) mit seinen Schriften
über Theater und Romane: Der katholische Theolog Ignaz
Heinrich Karl Freiherr von W. (1774—1860) war 1802 von Karl
von Dalberg zum Generalvikar und Präsidenten der geistlichen
Regierung des Bistums Konstanz ernannt worden, jedoch durch seine
Reformideen in einen Gegensatz zum päpstlichen Stuhle getreten.
Deswegen stimmte dieser nicht zu, als Dalberg 1815 beabsichtigte,
W. zu seinem Weihbischof und Koadjutor zu ernennen, und ebenso
versagte er seine Bestätigung, als W. 1817 nach Dalbergs Tode zum
Bistumsverweser ernannt wurde. Trotzdem verwaltete W. sein Amt,
bis 1827 das Bistum Konstanz infolge eines Konkordates aufgelöst
wurde. Seitdem lebte er als Privatmann in Konstanz, war aber auch
als Abgeordneter in der ersten Kammer des badischen Landtags
tätig. Im Verlage von Wallis in Konstanz erschienen von ihm 1825
„Ueber den sittlichen Einfluß der Schaubühne“ (2., sehr verm. u.
verb. Ausg. im selben Jahre) und 1826 der Versuch „Ueber den
sittlichen Einfluß der Romane“.