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Nr. 152, siehe GAA, Bd. V, S. 211thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief

                            Handschrift Amice,

in nr. 3 des vielgelesenen (wenigstens in Westphalen) westphälischen
Anzeigers aus Hamm (Schulz) und Münster vom 9t
Jan. c. steht eine Recension meiner oeuvres von Rousseau so
30tadelnd und so lobend als je eine geschrieben. Ich bin so
„infernalisch“ als „ein großer Dichter, dessen Geburtsort man
durch den Anzeiger zu erfahren wünscht“, ich bin eben so
gemein als groß, etwas Aehnliches als Gothland gibt es unter
den Nationen nicht pp. Ich glaube Du beziehst dieses Journal
35in Frankfurt auch, sonst theile ich Dir Abschrift mit. Rousseau

[GAA, Bd. V, S. 212]

 


kenn' ich nicht persönlich. Weil seine Recension zugleich heftig
tadelt, ist sie mir fast lieber als die im Socio. Wir machen
Glück. Hr. Pustkuchen continuirt in seinem eigenen Tone und
versteht meine Sachen weit weniger als Rousseau obgleich ich
5ihm, er mir caressirt. Ich Christlicher! Er vergleicht den Gothland
bereits mit Yngurd, dieser soll besonnener, Gothland
mehr voll Dichterfeuers seyn, auch nennt er mich klüger als
Goethe; warum? — Darum: in Berdoa zwar den Teufel, aber
doch nicht unter rechten Namen auftreten zu lassen. Übrigens
10ist sein Betragen gegen mich doch ehrenwerth. Auf meinem
Tische steht ein Bierglas. — Allmählig wird es mein Ernst,
ferner etwas zu leisten, besonders durch ein Stück, welches
sowohl theatralisch, correct ist, als auch alles was ich bis jetzt
dem Publico in einzelnen Dramen von meiner resp. Kraft
15gezeigt, überbietet, und da finde ich nach reiflichem Überlegen
nichts geeigneter als Faust und Don Juan, beide im
Kampf, Leporello die Komik, der Teufel (unter verstecktem
Namen) die Ironie, — das gibt was. Es ist mir nunmehr, da
ich Auditeur und Lieutenant (letzteres jedoch nur wegen des
20Gewehrpräsentirens im Range, nicht im Titel, weswegen
ich bitte mich nur „Auditeur“ zu couvertiren) geworden bin,
also einen etwas sicheren Boden habe, vielleicht die Periode
meines Lebens aufgegangen, in der ich grade weil ich am
ruhigsten bin, das Größte und Feurigste leisten kann. Ich
25glaube der Aetna hat am Handschrift meisten Ruhe, wenn er das meiste
Feuer speit. Das merke ich schon überall, wir, der eventuelle
„Messias der deutschen Bühne“ (Rousseaus Worte) wollen die
Paviane (selbst Mr. Raupach) als schändliche Heiden verjagen.

  Satan, Du schreibst mir zu wenig (Satan ist ein Compliment,
30denn die unschuldigen Kinder kann ich nicht ausstehen,
nur der Satan ist fromm gewesen, sonst wäre er nicht so ungeheuer
böse, und Bosheit ist für den Vernünftigen nichts als
Nothwendigkeit, sagt Kant in seinen nicht hinterlassenen
Schriften). Die Gespräche in Detmold sind mir all zu interessant,
35als daß ich Deine Briefe missen möchte. Die Leute
schätzen mich unendlich, die Augen gehen auf wie die Pforten
des Himmels bei der Sündfluth, aber unser Werk ist manchem
doch wohl noch immer zu theuer (für 2 pf hat man jetzt
allerliebste Bücher), was wie Hr. Pichler sagt, schändlich,
40jedoch von Dir klug berechnet sey. Und dabei bleibe ich
wahrhaftig auch.

[GAA, Bd. V, S. 213]

 


  Nun sag' mal um des Himmelswillen, willst Du noch nicht
heirathen? Ich bin jetzt verlobt, das heißt, mit Keiner. Was
soll Don Juan dem Geist, der ihn zur Hölle ruft, präsentiren?
Sallat, Endivien, Gurken und Kalbsstoß? Auch da muß noch
5Ironie stecken. Soll er die Polizei rufen lassen? — Das Größte
meines Lebens werden aber doch noch einmal die Hohenst. pp
Sich und die Nation in 6—8 Dramen zu verherrlichen. Und
welcher Nationalstoff! Kein Volk hat einen auch nur etwas
gleich großen. Und wie soll fast jeder irgend bedeutende
10deutsche Fleck verherrlicht werden; im Sonnenschein soll unser
ganze deutsche Süden liegen, Adler über Tyrols Bergen schweben,
und die See um Henrichs des Löwen Staaten brausen,
wie eine Löwenmähne.

  Herr Gott! Ich bin Dein treuer alter

15                                
sehr schiefer Grabbe. (Schreib bald, Freund)

Detmold den 20st Jan. 1828.

[Adresse:] Handschrift An die Hermannsche Buchhandlung (Herrn Buchhändler
Kettembeil) Wohllöblich in Frankfurt am Main.
20Frei.

 


152.

H: 2 Bl. in 40; 2 S., Adresse auf S. 4.
  Auf S. 4 Vermerk des Empfängers: 1828 Grabbe in Detmold den
20 Jan. Abgangsstempel: DETTMOLD 20/1 Ankunftsstempel:
FRANKFURT 23. IAN. 1828
F: GrA
D: WBl IV 428—30, als Nr 14.

S. 212, Z. 21: zu] fehlt H

S. 211, Z. 28: (Schulz): Im Jahre 1818 erwarb der Buchhändler
G. A. Wundermann die Mallinckrodt'sche Buchhandlung in Dortmund
und siedelte bald darauf nach Hamm in Westfalen über. Er
nahm in dieser Zeit Dr. Heinrich Sch. als Teilhaber auf; der nun
in Hamm bestehende Verlag firmierte fortan „Schulz und Wundermann
“. Mit dem Wundermann'schen Verlage war auch der „Sprecher
oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger“ nach Hamm übergesiedelt,
das bedeutendste Blatt im damaligen Westfalen. Seine Leitung übertrug
Wundermann, auf dessen Drängen, dem Dr. Schulz. Bereits
1825 brach die Firma „Schulz und Wundermann“ auseinander und

[Bd. b5, S. 547]

 


jeder der beiden Inhaber eröffnete einen eigenen Verlag. Das Verlagsrecht
am „Sprecher“ erhielt auf seinen ausdrücklichen Wunsch
Heinrich Schulz. Er hat ihn noch bis 1837 geleitet und es verstanden,
die Zeitung während dieser ganzen Zeit auf ihrer Höhe
zu erhalten. (Vgl. Rudolf Schneider, „Die 'Thusnelda' und die 'Allgemeinen
Unterhaltungsblätter', zwei westfälische Biedermeierzeitschriften
“, Münster in Westf., Phil. Diss. v. 12. Okt. 1922, S. 58,
60, 61, 66.)
S. 211, Z. 29: Rousseau: Johann Baptist R. (1802—1867), war in
Bonn geboren, wohin sein Großvater, ein Neffe Jean Jacques Rousseau's,
vom Kurfürsten Maximilian Franz als Hofmaler berufen
worden war. Er studierte von 1820 an Philosophie, Philologie und
Geschichte an der Universität seiner Vaterstadt, knüpfte freundschaftliche
Beziehungen zu Heine, trat frühzeitig mit zwei Sammlungen
lyrischer Gedichte an die Öffentlichkeit und gab den „Westteutschen
Musenalmanach“ auf die Jahre 1823 und 1824 sowie eine
Reihe von Zeitschriften heraus: 1824 die „Agrippina, Zeitschrift für
Poesie, Literatur, Kritik und Kunst“ in Köln, 1825—27 die „Rheinische
Flora, Blätter für Kunst, Leben, Wissen und Verkehr“ in
Aachen, während einer unbestimmten Zeit die „Modenzeitung für
deutsche Frauen“ am selben Orte und 1827 f. die „Hermione, Blätter
für Unterhaltung, Kunst und Wissenschaft“ in Hamm. Am Ende des
Jahres 1828 ist er nach Frankfurt am Main gekommen. Dort
hielt er, wie später auch in anderen Städten, literarische Vorlesungen
und Deklamatorien ab, übernahm die Redaktion der „Frankfurter
Oberpostamtszeitung“ und die der damit verbundenen „Frankfurter
Iris“, bis er 1833 zur Leitung der politischen Zeitung nach München
berufen wurde.
S. 211, Z. 30 f.: Ich bin so „infernalisch“ [usw.]: In Wirklichkeit
nennt Rousseau nicht den Dichter infernalisch, schreibt vielmehr
(Sp. 34): „In seinem Gothland predigt er noch den Atheismus in
der grellsten Bedeutung des Worts, und es kann wohl nur als
infernalische Ironie und bitterster Hohn gegen die Gottheit angesehen
werden, daß er zuletzt, als den Vertheidiger einer ewigen
Weltordnung oder wenigstens als Hinaufweiser zu einer solchen,
den größten Verbrecher, den abscheulichsten Bösewicht, einen Wütherich
an Leib und Seele, seinen Mohren Berdow[!], aufstellt.“
S. 212, Z. 2: im Socio: im „Gesellschafter“.
S. 212, Z. 6: Yngurd: „König Yngurd“, das 1817 erschienene
Trauerspiel Adolph Müllners.
S. 212, Z. 26 f.: der eventuelle „Messias der deutschen Bühne“
(Rousseaus Worte): Rousseau urteilt über den „Gothland“ u. a. wie
folgt: „Es ist ein voller dichter Blumenstrauß, aber an allen Blumen
klebt Blut, und sein Verfasser trägt wildduftende Blüthen der Poesie
im Herzen, nur ist die Passionsblume des Glaubens und die Immortelle
der geläuterten Weltanschauung darin noch nicht aufgegangen.
Erfolgt dieses, so kann er der dramatische Messias Deutschlands
werden.“ (Sp. 33—34.)
S. 213, Z. 4: Kalbsstoß: Oberdeutsche Bezeichnung der Kalbskeule.

[Bd. b5, S. 548]