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Nr. 221, siehe GAA, Bd. V, S. 261thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief


  Handschrift Unter den Namen Don Juan und Faust kennt man zwei
10tragische Sagen, von denen die eine den Untergang der zu
sinnlichen, die andere den der zu übersinnlichen Natur im
Menschen bezeichnet. In Tragödien, Tragi-Comödien und
Opern ist dieser Stoff, der etwas Weltbedeutendes an sich hat,
vielfach behandelt, und selbst Shakspeares Hamlet ist nichts
15anderes als ein englischer Faust. Mozarts Don Juan und
Goethes Faust — welche Kunstwerke! Und wie kühn, nach
diesen Meistern in beiden Stoffen wieder aufzutreten.

  Jedoch das ließ sich von Grabbe, bekannt durch seine wilden
dramatischen Dichtungen, erwarten. Es gilt hier nur, was
20und wie er gearbeitet hat. Die Composition, die Verschmelzung
beider Sagen ist höchst genial, — wir haben in den beiden
Hauptpersonen die Extreme der Menschheit vor uns, und
auch äußerlich, in der dramatischen Handlung, hat der Dichter
sie trefflich aneinander zu bringen gewußt. In der Weltstadt
25Rom (die Erinnerung an sie klingt wie ein Resonanzboden
durch das ganze Stück) treffen sich beide Charactere,
und beide gerathen durch die Liebe zu der Donna Anna,
der Tochter des spanischen Gesandten in Rom (Gouverneur
Don Gusman) in Zwist auf Leben und Tod. Donna Anna
30interessiert sich mehr für Don Juan, doch Faust entführt sie
ihm in sein Wunderschloß auf den Montblanc, — Don Juan
hat mittlerweile durch sein Schwert den Bräutigam und den
Vater der Anna aus dem Wege geräumt, und verzagt auch
nicht, sie auf dem Montblanc zu erringen. Anna kann ihn,
35als sie dieß erfährt, nur lieben und hassen, und den Faust,
der ihr Weib, Kind, Welt,

            „ja selbst seine Thränen“

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opfert, nur fürchten und verwerfen. Faust aber, zwar heiß
verliebt, jedoch voll des höchsten Stolzes als ein Titane, der
es zum Übermenschlichen gebracht, sich das Geisterreich unterworfen
hat, verwirft sie wieder, tödtet sie, und
5büßt, da menschliche Wehmuth und Reue sein Herz erfassen,
dadurch, daß er dem Teufel, mit welchem er im Bündniß
steht, sich freiwillig ergibt, freilich mit der echt Faustischen
kühnen Versicherung und Hoffnung:

        „wenn Du pp ring' ich auch — gethan“

10Don Juan, der, wie oben angedeutet, die Anna bis in Fausts
Wunderschloß verfolgt hat, ist mit seinem Diener Leporello
vom Montblanc bis an die Grabstätte des Gouverneurs durch
Faust (in einer herrlichen Scene, voll Phantasie und Humor)
zurückgeworfen worden; hier, wo die Grausen des Geisterreiches
15auf ihn einstürmen, entfaltet sich nun auf die sprudelndste
Weise aller Trotz, alle Kraft seiner Persönlichkeit,
und diese dauert bis in die letzte Scene des Stückes, wo
Faust ihm den Tod der Geliebten meldet, wo der Satan als
rother Funken im Hintergrunde des Zimmers schimmert, wo
20das Steinbild des Gouverneurs mit Schritten herannaht, die
nach Leporellos Ausdruck, kommenden Erdbeben gleichen.
Handschrift Statt vor Donner und Blitz zu zagen ruft Don Juan

                „Da capo — treffen“

oder „hoch lebe — heute“. Scenen wie diese sind Rec.
25nirgend vorgekommen; Lebenslust, Muth, und Grausen, Humor,
Spaß und Ernst sind so künstlerisch vereint, daß selbst
das Finale des 2t Acts im Mozart'schen Don Juan zurücksteht.


  Nach diesem Lobe muß Rec. aber doch bemerken, daß
30hinsichtlich der Composition darin ein Fehler begangen ist,
daß der Faust, weil er am Aeußeren dem Don Juan nachsteht,
wenigstens für die erste Anschauung weniger Interesse
als der letztere erregt, ja nur wie dessen Folie dazustehen
scheint. Blickt man jedoch aufmerksamer hin, so findet man,
35daß wahrscheinlich der Dichter den Faust mit Vorsatz, so
wie er da ist, angelegt hat. Es ist kein goethischer, in allen
Farben der Lyrik glänzender, und deshalb ungeachtet seiner
Characterschwäche, so anziehender Faust, — aber der Faust,
welcher in den Tiefen der Gedanken und der Welt zu Hause
40ist, ist es. Sein erster Monolog (Proben?), der studirt
seyn will, bezeichnet ihn gleich anfangs ganz bestimmt als

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solchen. Er bleibt aber, obgleich er strebt sich Gott zur Seite
zu stellen „wär' es selbst im Kampfe“ Mensch, verliebt
sich menschlich, und findet, ist auch seine Liebe unglücklich,
doch die Welt weit besser als er gedacht hat: „denn man
5kann darin lieben“. Mit den letzten Worten lös't Faust die
Dissonanzen des Stückes, und macht es aus einem Fragmente,
welches fast alle Tragödien sind, die bis zur Region dringen,
wo Zweifel und Glauben sich bekämpfen, zu einem Ganzen.
Faust's Begleiter, der Mephistopheles, scheint tief angelegt
10zu seyn (sein teuflisches Wesen ist daher entstanden, weil
er früher „so ungeheuer geliebt hat“), allein er ist doch bloß
Skizze. Die Scene, wo ihm der Blitz zu Füßen stürzt, um
ihn als Herrn des Feuerelements zu begrüßen, ist indeß
höchst imposant.

15  Don Juan dagegen ist ein Character, wie er vielleicht seit
Shakspeare und Cervantes nicht geschrieben worden: alle
menschlichen Vorzüge, Gestalt, Genie, Phantasie, Witz, Muth,
unbändige Thatkraft, selbst Gemüth vereinigen sich in ihm,
und doch ist er nur der nach Befriedigung der Sinnlichkeit
20strebende Mensch. Im 2t Acte ist seine Liebesscene zwischen
ihm und Donna Anna (Proben?) so voll Feuer, Poesie und
scheinbarer Wahrheit, daß man sie einem echten Liebhaber
der besten Liebes-Tragödie in den Mund legen könnte, und
doch ist alles nur — Heuchelei. Dem Leser oder Zuschauer
25(das Stück ist bühnengerecht) ergeht es aber wunderbar genug
wie der Donna Anna: man muß den Don Juan doch lieben.

  Leporello, der sagt: „der Mensch (sc. Don Juan) — noch
einmal als Er“ hat Recht, und aus dieser Stellung zum Don
Juan läßt sich schon errathen, wie merkwürdig dieser Diener,
30Handschrift der voller Humor ist, gezeichnet seyn muß. Muth hat er,
aber nur „auf sechzig Schritt weit“, denn nachdem er zitternd
das Denkmal des Gouverneurs zu Gast geladen, wirft er ihm
doch, als er 60 Schritt davon entfernt ist, einen Stein in's
Gesicht.

35  Donna Anna, der Gouverneur, Don Octavio sind, wie Rec.
sagen möchte, die Nothnägel des Stückes, besonders die Donna
Anna, indem die Liebe zu ihr beide Hauptpersonen zusammenbringt.
Scharf characterisirt (in Characterisirung scheint Grabbe
seit seinem Sulla nicht mehr zu überbieten zu seyn) sind aber
40auch diese Leute: der Ernst und die Tugend der Anna, das
Ehrgefühl und der Stolz des Gouverneurs, die Zierlichkeit

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und Gewöhnlichkeit des Octavio treten deutlich hervor. —
Eine komische Partie des Stücks ist der Polizeimeister Negro,
und er ist komisch genug. Mehr kann man über ihn eben
nicht sagen.

5  Wenn Grabbe eine Lebenslust wie Don Juan beibehält,
und nicht wie sein früherer Gothland einschläft, so kann aus
ihm als dramatischer Dichter das Höchste werden, sonst
aber vielleicht auch — Nichts. Noch immer scheint sein
eigner Geist mit sich selbst im vernichtenden Streite zu seyn.


      Freund!

10  Großen Dank. Geschäfte. Muß kurz seyn. Hieroben eine
kleine Recension. Mach' sie größer. Du kannsts oder auch
Deine Helfer. Ich seh's an der Ankündigung vorm Don Juan.
Grüße Rousseau und Meseritz. Ich bitte drum. Ankündigung
15ins Morgenblatt gut. Recension für England mußt Du nach
Analogie der obigen machen, auch für Conversationblatt oder
Halle. Weiß nicht, wohin Du obige schickst. Ideen: Geist,
Feuer des Stücks, — Charactere — hervorgestrichen — Bezug
auf meine früheren tollen Producte — Scenen, z. B. die
20Ballgeschichte über die Oper geworfen — Worte angeführt
— letzte Geisterscene gelobhudelt — mich in England (unter
Bezug auf die Hallische Literaturzeitung) mit Lord Byron
confrontirt. pp Sey klug. Mach oder laß diese Selbstrecension
recht schnell machen. Verschick auch schnell. Exemplare
25habe ich für Pustkuchen, Köchy, Klingemann circa noch
6 nöthig. Kann sie auch von Meiers in Lemgo nehmen.
Poussire mir Rousseau. Schildre ihm meine Person.
Geld für Übersetzung ins Englische kannst Du wagen.
Deine 6 rthlr. mußt Du mir, obgleich ich eben von unsrem
30Landesherrn ein Präsent erhalte, wenn Du kannst, noch
einige Wochen borgen. Ich will und kann groß hinaus,
muß aber groß leben. Mich selbst recensiren, aber die Hohenstaufen!
— Nicht Zeit dazu. Handschrift Hatte ich nicht doch Recht?
Der Don Juan ist ein höllischer Kerl. Laß Rousseau vorlesen.

35                          Ich liebe Dich
Dein treuer Grabbe.

Detmold d. 16t

  Jan.
          1829    (Besorg Verschickung und Recensionen)

[GAA, Bd. V, S. 265]

 

 


221.

H: 2 Bl. in 40; 3½ S.
  Auf S. 4 Vermerk des Empfängers: 1829 Grabbe in Detmold den
16 Jan.
F: GrA
D: WBl IV 432—35, als Nr 16.
Der Brief ist mit zunehmender Flüchtigkeit geschrieben. Insbesondere
sind im eigentlichen Briefe manche Worte stark abgekürzt. Da
der Herausgeber, Oscar Blumenthal, die Originale als Druckmanuskript
für seine Ausgabe verwendet hat, so hat er diese flüchtig
geschriebenen Worte mit Tinte über der Zeile wiederholt, sie selbst
hin und wieder auch durchgestrichen.

S. 261, Z. 28: des] fehlt H
S. 262, Z. 8: Hoffnung] Hoffung H
S. 262, Z. 23: „Da] Da H
S. 263, Z. 39: aber] versehentlich wiederholt H
S. 264, Z. 25: Köchy,] Köchy H

S. 264, Z. 14: Meseritz: Der ungenannte Verfasser der Besprechung
der „Dramatischen Dichtungen“ in Nr 208 der „Blätter für
literarische Unterhaltung“ vom 9. September 1828. Es handelt sich
vermutlich um den im Jahre 1782 geborenen Publizisten und hessendarmstädtischen
Rat Ludwig Ferdinand von M. Dieser war seit
mindestens 1823 in Frankfurt am Main ansässig und als Korrespondent
der „Allgemeinen Zeitung“ und der „Constitutionelle“, daneben
als Übersetzer für die „Oberpostamtszeitung“ tätig. Am 26. Nov.
1856 ist er in Frankfurt gestorben. (Auskunft des Archivs der Stadt
Frankfurt; Oettinger, Moniteur des Dates, Livr. 19, 1867, S. 10[c].)
S. 264, Z. 21 f.: unter Bezug auf die Hallische Literaturzeitung:
Diese hatte in ihrer Besprechung der „Dramatischen Dichtungen“
(siehe die Anm. zu Verweis zum Kommentar S. 193, Z. 35 f.) u. a. geschrieben: „sogar Lord
Byron bleibt an Kraft und verzweifelnder Verwegenheit hinter
Grabbe zurück“ (Sp. 462).
S. 264, Z. 29 f.: obgleich ich eben von unsrem Landesherrn ein
Präsent erhalte: Dafür ist im StAD weder unter der Privat-Korrespondenz
Leopolds II. noch an anderer Stelle ein Beleg zu finden.