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Nr. 49, siehe GAA, Bd. V, S. 46thumbnail
Gotthelf Heinrich Jacobi (Leipzig) an Christian Dietrich Grabbe (Berlin)
Brief

Handschrift Leipzig d. 21. Novbr.
                                
25                    Freundschaftlichen Gruß!

  So eben habe ich das Land Uz verlassen, und gesehn, wie
der geschäftige Satan des Job der Engelfamilie Kunde bringt
und giebt von dem, was ihm auf seinen Streifzügen vorgekommen
und begegnet ist. Da nun einmal die Rede vom
30Herumwandern war, und mein Ohr sich vor dem Nablion
und der Githith entsetzt, und meine schon an sich schlechten
Zähne an den ominösen hebräischen Wurzeln sich stumpf gebissen
haben; so ziehe ich es vor an einer Feder zu kauen,
und mich umzusehn, ob etwa ein mir Befreundeter unter wildfremden
35Menschen, mögen es nun Ciconen, Lästrygonen,
Cyclopen oder Lotophagen seyn; sich aufhält. Nun aber
indem ich in Gedanken hin und her ziehe, komme ich zu
den salzessenden, kuhmelkenden Märkern, gehe hin in ihre
gassengeräumige Stadt, und finde einen wohlbekannten Freund

[GAA, Bd. V, S. 47]

 


daselbst, von manchen Sirenen umgaukelt, und von manchem
Schönen, sey es auch statt des Lotos Schweitzer Biscuit pp
dort festgehalten. Gern hätte ich zu Anfange des Herbstes
den Lieben von Angesicht zu Angesicht zu stehn, allein
5körperliches Uibel vereitelte den schon gefaßten Vorsatz. Mit
dem Neuen, was während Deiner Abwesenheit und Entfernung
sich hier ereignet hat, wirst Du bereits durch andre
Gesellen bekannt geworden seyn. Das Theater will mir nicht
mehr schmecken, seitdem ich Wolffs, Eßlairn, die Stich und
10die Schröder gesehn habe. Thieme ist noch immer der alte
Stein des Anstoßes und der Aergerniß, der ewig herbstliche
Wald geht auch mit seinen gelben Blättern einem neuen Frühling
entgegen, und Kinderdivertissements nebst andern albernen
Springereyen sind an der Tagesordnung. Vielleicht wird
15bald ein Seil über die Bühne gezogen. Doch damit Punctum!
Nur gut, daß man bey Renern (Zur etc) sich noch lethische
Flüssigkeit holen kann. Um Dein Urtheil über die Neumann
bitte ich Dich. Viele gedenken Deiner. Doch für jetzt: Adieu!
adieu! remember me!

20                                 Stud th.
                                 476 4 Treppen.

[Adresse:] Handschrift Herrn — — Grabbe Stud. jur utr. in Berlin.
d.[urch] E.[inschluß.]

 


49.

H: 1 Bl. in 40; 1 S., Adresse auf S. 2.
F: GrA
T: WW I XV, Anm. 11.
  1) Wukadinović hat den Anfangsbuchstaben des zweiten Vornamens,
der ein deutliches „H“ ist, fälschlich als „J“ gelesen.

S. 46, Z. 26: das Land Uz: Es wird im Alten Testamente dreimal
erwähnt: Hiob 1,1, Jerem. 25,20 und Klagelieder Jerem. 4,21. Für
die biblischen Schriftsteller war es ein ziemlich vager geographischer
Begriff; es muß am Nordrande der arabischen Wüste, nordöstlich
von Edom, südlich von Syrien, gesucht werden.
S. 46, Z. 27: der geschäftige Satan des Job: Hiob (eigentlich
Ijjôb, im Lateinischen Job) ist der Held des gleichnamigen alttestamentlichen
Buches, ein reicher Herdenbesitzer im Lande Uz und ein
gottesfürchtiger Mann. Eines Tages erscheint im himmlischen Thronsaale
unter den Engeln, nachdem er „das Land umher durchzogen“,

[Bd. b5, S. 434]

 


der Satan und verdächtigt die Uneigennützigkeit von Hiobs Gottesfurcht.
Darauf gibt ihm der Herr den Hiob in die Hand; doch
seines Lebens soll er schonen. Nun hofft der Satan, den Frommen
zu Fall zu bringen, aber es gelingt ihm nicht.
S. 46, Z. 30: Nablion: τὸ ναβλίον, Deminutiv von ὴ νάβλα,
ein musikalisches Saiteninstrument.
S. 46, Z. 31: der Githith: Die in der Aufschrift des achten,
einundachtzigsten und vierundachtzigsten Psalms vorkommende Gittith
ist am wahrscheinlichsten eine aus der Philisterstadt Gath
stammende, besondere Art des Kinnôr, also ein zither- oder harfenartiges
Saiteninstrument, nach neuester Anschauung wohl eine Leier.
S. 46, Z. 35: Ciconen: Die Kikones waren ein thrakischer Volksstamm
an der Küste zwischen der Mündung des Hebros und dem
Bistonischen See. Er ist frühzeitig verschollen; als gegenwärtig erscheint
er nur bei Homer. „Ilias“ II, 846 f. werden die Kikones
unter den troischen Hilfsvölkern genannt; „Odyssee“ IX, 39—61
wird der Kampf des Odysseus mit ihnen erzählt und 165 f. des
dort erbeuteten Weins gedacht.
S. 46, Z. 35: Lästrygonen: Die Laistrygonen sind in der „Odyssee“
(X, 77—132) das Volk der menschenfressenden Riesen, das Flotte
und Gefährten des Odysseus mit einziger Ausnahme von Odysseus'
eigenem Schiffe vernichtet.
S. 46, Z. 36: Cyclopen: Nach der ältesten, bei Hesiod hervortretenden
Anschauung sind die Kyklopen Söhne des Uranos und
der Gaia (der Mutter Erde), von ihr nach den Titanen und vor
den Hekatoncheiren geboren. Alle diese Riesensöhne verbirgt der
verhaßte Vater in den Schoß ihrer Mutter. Nachdem Zeus den
Entscheidungskampf gegen Kronos begonnen hat, befreit er die
Kyklopen aus dem Tartaros. Zum Danke geben sie ihm Donner,
Donnerkeil und Blitz und setzen ihn dadurch in den Stand, über
die Titanen zu siegen und für alle Zukunft die Herrschaft über
Götter und Menschen an sich zu reißen. Eine andere Qualität zeigen
die Kyklopen in der Homerischen Dichtung. Dort sind sie, ihres
dämonischen Wesens entkleidet, als ein rohes, menschenfressendes
Riesenvolk geschildert, das, jeglicher Zivilisation abhold, im fernen
Westlande in Höhlen nahe den Bergspitzen wohnt. Die Abenteuer
des Odysseus und seiner Gefährten mit den Kyklopen, insbesondere
mit Polyphemos, dem schlimmsten Vertreter seiner Gattung, werden
„Odyssee“ IX, 105 ff. erzählt.
S. 46, Z. 36: Lotophagen: Die Lotosesser; bei Homer ein Märchenvolk,
mit dem Odysseus in Berührung kommt und bei dessen Lotosspeise
seine Gefährten die Heimkehr vergessen. („Odyssee“ IX,
82—104; XXIII, 311.)
S. 47, Z. 9: Wolffs: Pius Alexander W. (1782—1828) und dessen
Gattin Amalie (1783—1851); beide seit 1816 am Berliner Hoftheater.

S. 47, Z. 9: Eßlairn: Ferdinand Eßlair (1772—1840), seit 1820
als Heldenspieler und Regisseur am Hoftheater zu München.
S. 47, Z. 9: die Stich: Siehe die Anm. zu Verweis zum Kommentar Bd 2, S. 537, Z. 21 f.
(S. 800—801.)
S. 47, Z. 10: die Schröder: Die besonders in tragischen Rollen

[Bd. b5, S. 435]

 


ausgezeichnete Schauspielerin Sophie Schröder (1781—1868), die damals
am Wiener Hoftheater engagiert war.
  Pius Alexander und Amalie Wolff gastierten am Leipziger Theater
vom 9. bis 27. März 1822 und traten dabei u. a. als Orest und
Iphigenie, Meister Spinarosa und Camilla (in Houwalds „Bild“),
Regierungsrat von Uhlen und dessen Gattin (in der „Eifersüchtigen
Frau“, Lustspiel nach dem Englischen von Kotzebue), Graf Leicester
und Königin Elisabeth, außerdem u. a. er als Graf Klingsberg,
Vater, und Marquis Posa, sie als Sappho, Elvire (in Müllners
„Schuld“) und Lady Milford auf. — Darauf spielte Eßlair in der
Zeit vom 6. bis zum 21. Juni u. a. den Wilhelm Tell, Nathan den
Weisen, den Oberförster Warberger zu Weißenberg (in Ifflands
„Jägern“), den Kriegsrat Dallner (in dessen „Dienstpflicht“), den
Macbeth, den Grafen (in Babos Lustspiel „Der Puls“), den Otto
von Wittelsbach (in dessen gleichnamigem Trauerspiele), den König
Lear und den Theseus (in „Phädra“, Trauerspiel nach Racine von
Schiller). — Unmittelbar schloß sich an das Gastspiel der Madame
Stich, das bis zum 8. Juli dauerte. Sie gab u. a. die Rollen der
Donna Diana (in Moretos gleichnamigem Lustspiel), der Jungfrau
von Orleans, der Bertha (in Grillparzers „Ahnfrau“), der Julia
(in „Romeo und Julia“), der Isabelle (in den „Quälgeistern“, Lustspiel
nach Shakespeare von Beck), der Chatinka (in Kratters Schauspiel
„Das Mädchen von Marienburg“) und der Afanasia (in Kotzebues
Schauspiel „Graf Benjowsky, oder: Die Verschwörung auf
Kamtschatka.“). — Endlich gastierte Sophie Schröder am 31. Juli
als Sappho, am 6. August als Gräfin Orsina und als Medea (in
Gotters gleichnamigem Melodrama).
S. 47, Z. 10: Thieme: August Wilhelm Th., Mitglied des Leipziger
Theaters vom 5. April 1820 bis zum 20. Februar 1824.
S. 47, Z. 13: Kinderdivertissements: Am 12. Juli 1822 wurde das
Kinderballet „Nettchen und Paul, oder: Die Wäschermädchen“,
Kinderdivertissement von Herrn Wentzel [ = Ernst Ferdinand
Wenzel?], Musik von [Adalbert] Gyrowetz, zum ersten Male aufgeführt;
bis zum 21. November fanden sechs Wiederholungen statt.
Über eine ähnliche Veranstaltung, die noch in Grabbes Leipziger
Aufenthalt fällt, hatte Amadeus Wendt unterm „Ende des Jahrs
1821“ dem „Morgenblatte“ geschrieben: „Die erste Neuigkeit, an
welcher ein großer Theil des Publikums Vergnügen gefunden hat,
war ein von dem neuangestellten Tänzer, Hrn. Wentzel, fleißig
angeordnetes, und von der Direktion gut ausgestattetes, Divertissement:
Das ländliche Fest im Wäldchen bey Kis-Bèr,
in welchem eine große Schaar von Kindern als Kosaken, Slawaken,
Tyroler und Zigeuner, nach einer äußerst schlechten Musik,
lustig herumspringen.“ (Nro 31. Dienstag, 5. Februar 1822. S. 124.)
S. 47, Z. 17: die Neumann: Die Sängerin und Schauspielerin
Amalie Haizinger (1800—1884), seit 1815 Mitglied des Hoftheaters
in Karlsruhe, seit 1816 mit dem Schauspieler Karl Neumann vermählt.
Sie gab in der Zeit vom 6. Mai bis zum 1. Juli 1822 (zusammen
mit ihrem Gatten) an den königlichen Theatern in Berlin
30 Gastspiele, wobei sie u. a. in folgenden Rollen auftrat: Baronin
von Holmbach (in Schröders Lustspiel „Stille Wasser sind tief.“),

[Bd. b5, S. 436]

 


Clärchen (in Holbeins Lustspiel „Der Verräther“), Preciosa (in
Wolffs gleichnamigem Schauspiel), Zerlina (im „Don Juan“), Margarethe
(in Ifflands Lustspiel „Die Hagestolzen“), Louise (in
„Kabale und Liebe“), Prinzessin Eboli, Fanchon (in Himmels Operette
„Fanchon das Leyermädchen“), Isabelle (in Becks Lustspiel „Die
Quälgeister“), Lottchen (in Kotzebues Schauspiel „Die Versöhnung“),
Donna Diana (in Moreto-Wests gleichnamigem Lustspiel), Bertha
(in der „Ahnfrau“), Beatrice (in der „Braut von Messina“), Suschen
(in Claurens Schauspiel „Der Bräutigam aus Mexiko“), Marianne
(in Goethes „Geschwistern“).
S. 47, Z. 16: Renern: Ein Mann dieses Namens kommt im Leipziger
Adreßkalender auf das Jahr 1823 weder unter den Gastwirten,
noch unter den Wein- und Bierschänkern, den Destillateurs und
Branntweinbrennern vor.
S. 47, Z. 18 f.: Adieu! adieu! remember me: Die Abschiedsworte
des Geistes von Hamlets Vater in Akt 1, Szene 5 der Tragödie
Shakespeares.