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Nr. 69, siehe GAA, Bd. V, S. 80thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Dresden) an Adolph Henrich Grabbe, Dorothea Grabbe (Detmold)
Brief

                    Handschrift Liebe, theure Eltern!

  Ich bin noch gesund, möchtet Ihr es doch auch seyn. Den
Brief mit den Kleidern habe ich zu meiner großen Freude
erhalten, und ich danke Euch für jetzt herzlich dafür.

5  Hier lebe ich noch so wie sonst, habe auch wieder Geld bekommen,
und denkt euch, war neulich mit dem Fürsten von
Bückeburg und seiner Gemahlinn in einer Gesellschaft. —
Alle meine Sachen sind hier; in Berlin habe ich nichts mehr.
— Daß Werfel krank von Prag zurückgekommen, ist wahr;
10es that mir leid. — Ich habe nun schon wieder ein drittes
Stück fertig, und hoffe in 3 Wochen noch mit einem vierten
fertig zu seyn. Daß ich Euch gewiß einmal bald besuche, darauf
könnt Ihr Euch heilig verlassen. — Das Essen in den Gasthäusern
ist sehr gut, oft habe ich es aber umsonst. Von Bekannten
15habe ich nur ältere Leute. — Daß ich mich mahlen
lasse, kann hier am leichtesten geschehen, weil in Dresden so
viele Mahler sind. — Handschrift Ich wohne hier eine Treppe hoch bei
einer alten Frau, deren beste Eigenschaft ist, daß sie mir
wirklich reinen Caffee kocht. — Neulich war ich nach Tharand
20und in die sächsische Schweiz gereist; das sind herrliche Gegenden!
Wenn ich auf das Land will, so kann ich die Familie
eines Gutsbesitzers, ½ Stunde von der Stadt, welche ich durch
ihren Sohn, einen Studenten in Leipzig, habe kennen lernen,
besuchen und das thue ich auch. (NB. Ich schreibe den Brief
25auf solches Papier, weil das andere durchschlägt.) Von meinen
Freunden in Berlin habe ich gewiß über 100 Briefe liegen, die
ich alle franco bekommen habe. Man sieht doch daran, daß
man mich nicht vergißt, und das kann mich unendlich rühren.
— Der König von Baiern ist jetzt fort; er beträgt sich ohngefähr
30wie ein reicher Edelmann; man erzählt sich viele
spaßige Anekdoten von ihm; in München soll er oft mit den
Bauern auf dem Handschrift Lande sprechen. Der König von Sachsen lebt
viel prächtiger und zurückgezogener. — In der katholischen
Kirche ist hier Sonntags herrliche Musik, nur thut es Einem
35leid, wenn man hört, daß die Leute, welche singen, Verschnittene
sind. — Ich lasse mich einen Tag um den andern
rasiren. — Der 10te Mann hat in Dresden fast jedesmal einen
Buckel oder wenigstens schrecklich schiefe Beine, die Menschen
in Berlin sind weit größer und schlanker. — Was sagte der
40alte Hofprediger, als er den Brief bekam, daß Werfel nach

[GAA, Bd. V, S. 81]

 


Italien ginge? — — Meine Wäsche ist in gutem Zustande; ich
ziehe sehr oft reine Hemde an; auch kostet sie nicht viel. —
Den alten Flausch habe ich noch immer, trage ihn aber nur
als Schlafrock auf der Stube. — Künftig könnt Ihr Euch
5darauf verlassen, daß ihr Handschrift allemal einige Tage nach Eurem
Briefe eine Antwort von Eurem Sohne haben sollet; dießmal
kommt sie etwas später, aber ich hoffe, desto angenehmer. —
Es blüht und grünt hier, das Korn steht ellenhoch; ist es zu
Hause auch so? Bald sehe ich nun grüne Weinberge, und das
10noch dazu mitten aus der Stadt, von der Elbbrücke aus. —
Von Leipzig nach Dresden und umgekehrt geht jetzt eine
Eilpost in 6 Stunden, und wir sind also im Grunde nicht weiter
auseinander, als da ich in Leipzig war. — Die Mutter muß,
muß Caffee trinken, und du Vater! sollst auf den Keller gehn!
15— Glaubt nur ich werde stets, stets an Euch denken, kaum
soll eine Stunde vorübergehen, ohne daß ich es thäte.
                         Euer
                             treuer
  [Dresden.] Den 21sten Mai    ChD Grabbe.
[1823.]    

 


69.

H: Doppelbl. in 40; 4 S.
F: GrA
T: Gegenw. S. 11.
T: WBl IV 352—54, als Nr 17.
D: WGr IV 178—80, als Nr 23.

S. 80, Z. 22: Stunde] fehlt H
S. 80, Z. 23: lernen] fehlt H
S. 80, Z. 28: mich] micht H
S. 80, Z. 6 f.: Fürsten von Bückeburg] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 10 f.: drittes Stück] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 11 f.: vierten fertig zu seyn] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 14 f.: oft habe ich [bis] Leute] Mit Rotstift unterstr., von
(Be-)kannten an doppelt H
S. 80, Z. 24: auch. (NB. Ich schreibe den] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 37—39: Mann hat in, (jedes)mal einen Buckel o(der),
schiefe Beine, Berlin [und] und schla(nker)] Mit Rotstift unterstr. H

S. 80, Z. 6 f.: mit dem Fürsten von Bückeburg und seiner Gemahlinn:
Georg Wilhelm, Fürst von Schaumburg-Lippe (1784 bis
1860), und Fürstin Ida Caroline Luise (1796—1869), eine Prinzessin
von Waldeck, mit der er seit dem 23. Juni 1816 vermählt war.
S. 80, Z. 9: Werfel: Siehe die Anm. zu Verweis zum Kommentar S. 32, Z. 33.
S. 80, Z. 10 f.: ein drittes Stück: „Nannette und Maria“.
S. 80, Z. 11: mit einem vierten: „Marius und Sulla“.
S. 80, Z. 29: Der König von Baiern: Siehe die Anm. zu Verweis zum Kommentar S. 76,
Z. 33 f. Nach fast sechswöchiger Anwesenheit hatte die bayerische
Königsfamilie gegen Mitte Mai Dresden wieder verlassen. („Morgenblatt“
Nro 174, Dienstag, 22. Juli, S. 696.)
S. 80, Z. 32: Der König von Sachsen: Friedrich August I. mit
dem Beinamen der Gerechte (1750—1827).
S. 80, Z. 40: der alte Hofprediger: Droste; siehe die Anm. zu
Verweis zum Kommentar S. 28, Z. 39.
S. 80, Z. 37 f.: Der 10te Mann hat in Dresden fast jedesmal
einen Buckel [usw.]: Daß dieser Eindruck sich in der Tat dem
Fremden ausdrängen mußte, bezeugt u. a. Adolph von Schadens

[Bd. b5, S. 466]

 


„Katersprung von Berlin über Leipzig nach Dresden“ (Deßau,
Schlieder; Leipzig, Kollmann in Comm. 1821), ein Werk, in dem
den „Buckligen und Kropfigen“ in der Hauptstadt des Königreichs
Sachsen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. (S. 71—75.) Vgl. ferner
Erich Ebsteins Aufsatz „Über das gehäufte Auftreten von Buckligen,
bes. in Sachsen“ in der „Zeitschrift für Krüppelfürsorge“,
Bd 13, H. 2, 1920, S. 25—28. Darin werden außer Schaden und
Grabbe noch andere Beobachter zitiert.