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Nr. 75, siehe GAA, Bd. V, S. 90thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Ludwig Tieck (Dresden)
Brief

10        Hochwohlgeborner Herr!
        Verehrtester Herr Geheimrath!

  Ihrer ausgezeichneten Güte bin ich die drei schönsten Monate
meines Lebens schuldig, und selbst auf die Gefahr Sie zu
langweilen, bin ich verpflichtet Ihnen Rechenschaft aus der
15Ferne zu geben. Ich reis'te natürlich ein wenig trübe von
Dresden ab, und kam so nach Leipzig, wo ich mit mehreren
Jugendfreunden die letzten Blüthen der Erinnerung abpflückte.
Ermuthigt durch den Gedanken an Ewr Hochwohlgeboren
trat ich nachher in Braunschweig vor Klingemann, und die
20Schonung und Humanität, mit welcher Sie mich behandelt
hatten, war einer der Trostgründe, welche mich aufrecht erhielten,
als mir die Anstellung abgeschlagen wurde. Gewiß
bin ich es zum größten Theil Ihrem Beispiele schuldig, daß mir
die dasige Theaterdirection eins meiner Stücke mit 30 rthlr.
25abkaufte, welche mich in den Stand setzten, nach Hannover
zu eilen und mich dort zu erbieten, von der Pike auf an
der Bühne zu dienen. Aber leider war der Freiherr Grothe
eben nach Süddeutschland gereis't, und ich konnte auf der
Stelle keine sichere Antwort erhalten. Ich hielt für meine
30Pflicht, nicht länger das Geld auf's Ungewisse hin im Gasthause
zu verzehren, sondern zu Fuße einige Thaler zu meinen
Eltern zu tragen. Mich ergriff's wie ein Krampf, als ich über
die schwärzlichen Berge meiner Heimath, dem traurigen Wiedersehen
entgegen klettern mußte. Doch genug von allem, —
35ich habe kein Recht, Sie an meiner Lage Theil nehmen zu
lassen, — sie ist zu abscheulich. — Bisweilen habe ich die
Idee, mich nach Bremen zu dem neu entstehenden Theater

[GAA, Bd. V, S. 91]

 


zu wenden, aber wie darf ich solche Reise auf Wagniß unternehmen?
— Könnten Ewr Hochwohlgeboren mich zu irgend
einem Geschäfte gebrauchen, welches anderthalb hundert Thaler
einbrächte, so wäre ich erlös't und glücklich. Vielleicht
5hätte ich dann bald Gelegenheit mich weiter empor zu bringen,
oder zum wenigsten könnte ich sie doch abwarten.

  Handschrift Ich denke fast stündlich Ihrer wie eines guten Genius, und
würde dieß wahrlich nicht niedergeschrieben haben, wenn es
mir nicht unwillkührlich aus der Feder geflossen wäre. Wenn
10Ewr Hochwohlgeboren mich auf irgend eine Art einer kurzen
Antwort würdigten, so würde ich innigst erfreut seyn, selbst
wenn sie meine Bitte nicht gewährte. Auf alle Fälle würde
ich daraus frischen Lebensstoff ziehen, dessen ich oft recht
sehr bedarf. — Mit der tiefsten Handschrift Hochachtung bin ich
                       Ewr Hochwohlgeboren
                           gehorsamster
Detmold den 29sten Aug.    Ch. Grabbe.
      1823.    

 


75.

H: Bekannt nur der Schluß des Briefes (von den Worten „Ich
denke fast stündlich Ihrer“ an). 1 Bl. in 40; 1S.
F: GrA
D:Briefe an Ludwig Tieck“. Bd 1, S. 245—46, als Nr II.

S. 90, Z. 10 f.: Hochwohlgeborner Herr! / Verehrtester Herr
Geheimrat!] gesperrt D
S. 90, Z. 18: Ewr] Ewr. D Ebenso S. 91, Z. 2 und 15
S. 91, Z. 17 f.: Detmold den 29sten Aug. 1823.] Detmold den
29sten Aug. 1823. am Kopfe des Briefes D
  Wukadinović meint (WW VI 269 zu V 258, 8 ff.), dieser Brief
scheine nur das Konzept des folgenden (Nr 76) zu sein.
S. 90, Z. 24: eins meiner Stücke: „Nannette und Maria“.
S. 90, Z. 27: der Freiherr Grothe: Es handelt sich wohl um
August Otto Ludwig Freiherrn v. Grote (1787—1831), der 1816
seinen bleibenden Wohnsitz in Hannover genommen hatte und am
6. Juni 1823 vom König von Hannover zum Kriegskanzleidirektor
mit dem Range eines Generalmajors und zum Oberzolldirektor

[Bd. b5, S. 473]

 


ernannt worden war. Dieser hatte sich in der Tat genötigt gesehen,
noch im selben Jahre zur Wiederherstellung seiner geschwächten
Gesundheit ein wärmeres Klima aufzusuchen, und deshalb mit einem
Teile seiner Familie eine Reise durch die Schweiz nach Rom angetreten.
(Vgl. „Neuer Nekrolog der Deutschen“ Jg. 9, 1831, Th. 1.,
Ilmenau 1833, S. 395—99.)