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Nr. 340, siehe GAA, Bd. V, S. 357thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief


35  Handschrift Du irrst, wenn Du mich auf dem Faulbett glaubst. Krank
bin ich aber sehr gewesen, liege auch noch darnieder. Der
Kosciusko ist mein Ernst, und ich studire stark für und über
ihn. Aus dem Ermel kann ich ihn bei meiner Gemüthsstimmung

[GAA, Bd. V, S. 358]

 


aber nicht schütten. Komme er aber, wann er will; alles was
während seiner Ausarbeitung in der Zeit passirt, soll, wo
möglich, hinein. An das Theater denke ich dabei auch, aber
verwünscht, wenn dieser hölzerne Lumpenkram, der total verändert
5werden, weit einfacher und doch weit großartiger werden
muß, mich durch seine jetzige Aeußerlichkeit gänzlich im freien
Gebrauch meiner Phantasie stören sollte. Du hättest qua Buchhändler
wenig Nutzen davon, denn ich höre eben nicht, daß
man die jetzigen Theaterstücke, weil sie aufgeführt sind, auch
10gedruckt kauft, und Raupach möchte mit einer Gesammtausgabe
der seinigen übel fahren. Mir könnte es einigen Profit
und Comödienläufer-Bewunderung machen. Frage aber nicht
viel darnach.

  Daß ich sehr gähre, sehr schlimm jetzt bin, weiß ich auch.
15Ich habe 5 Seelen im Kopfe. Ich weiß aber auch, daß ich
nur nicht selbst einzustürzen brauche, um in den Tagen der
Ruhe alle die Schätze, Schlacken und Felsen zu sehen, Handschrift die ich
ausgeworfen habe, und sie zu benutzen.

  Die Wasserfallschen Posten vom v. J., welche Du anführst,
20habe ich, glaube ich, auf Deine Anweisung erhalten.

  Befördere den Napoleon in Paris.

  Was ich kann, will ich Dir zu Gefallen bei dem Kosciusko
thun, um nicht nur ein zeitgemäßes, sondern auch in die Zeit
sich fügendes Werk daraus zu schaffen. Das Letztere hält bei
25mir freilich schwer, denn so ganz kann ich mich nicht überwinden,
bloß um ein paar Groschen schneller zu verdienen,
geniale Flugblättchen zu Bänden zu füllen, und weiter sind z. B.
Börnes und Heines neuere Schriften doch nichts. Etwas muß
ich doch auch selbst an meinen Sachen lieb haben. Ich glaube,
30wir stehen auf dauerhafteren Füßen als diese Sommervögel.

  Ich achte allmählig die Menschen zu wenig, um Handschrift mir die
Mühe zu geben, sie zu Narren zu halten. Vor zehn Jahren
aber wär' es mir Spaß gewesen, jeden Tag einige Stunden
anzuwenden, um sie mit grundschlechten Schriften zu mystificiren.
35Jetzt will ich selbst zufrieden seyn.

  Im Napoleon steckt viel Prophetisches (z. B. jetzt wieder
die Pairssache, act. IV, 1) — Das sage ich aber, im Kosciusko
soll noch mehr sitzen.

  Statt den N.[apoleon] zu recensiren, druckt man Scenen
40daraus ab — neulich die im Vt Acte mit Braunschweig
sowohl im Frankf. Unterhaltungsbl. oder Wochenblatt als in

[GAA, Bd. V, S. 359]

 


Braunschw. selbst, wo Lärm darüber entstanden. Was bedeutet
das?
                             Wahrlich
  Detm. d. 20st Oct.    Dein
      1831.                              Grabbe.

  [Adresse:] Handschrift Sr Wohlgeboren dem Herrn Buchhändler Kettembeil
(Hermannsche Buchhandlung) in Frankfurt am Main.

 


340.

H: Doppelbl. in 40; 3 S., Adresse auf S. 4.
  Auf S. 4 Vermerk des Empfängers: 1831 Grabbe in Detmold den
20 Octbr Abgangsstempel: DETTMOLD 20/10
F: GrA
D: WBl IV 470—71, als Nr 38.

S. 358, Z. 19: die Wasesrfallschen Posten vom v. J.: Über diese
Geldangelegenheit ist nichts bekannt.
S. 358, Z. 41: sowohl im Frankf. Unterhaltungsbl. oder Wochenblatt:
In Jg. 14, No 41 der von Johann Ludwig Heller herausgegebenen
„Wöchentlichen Unterhaltungen“, „Extra-Beilage zum
Frankfurter Journal“, vom 9. Oktober 1831 findet sich auf den
S. [1]—[4]: „Der Ball zu Brüssel. (Eine Scene aus Grabbe's
neuestem Drama: 'Napoleon, oder: Die hundert Tage.')“
S. 358, Z. 41 — S. 359, Z. 1: als in Braunschw. selbst, wo Lärm
darüber entstanden. Was bedeutet das: Der Abdruck der ersten
Szene des fünften Aktes findet sich in No 65 der „Amnnalen der
Haupt- und Residenzstadt Braunschweig“ vom 24. August 1831,
S. 291—93. Es ist die letzte überhaupt erschienene der „Annalen“.
Für die Bemerkung „wo Lärm darüber entstanden“ vermag der
Bearbeiter keine Erklärung zu geben. Das „Braunschweigische Magazin
“ (die kulturelle Beilage der „Braunschweigischen Anzeigen“),
die „Deutsche National-Zeitung aus Braunschweig und Hannover“
und die „Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, insonderheit für
die lieben Landleute alt und jung“ sind ergebnislos auf ein Echo
auf die Veröffentlichung der „Annalen“ durchgesehen worden, und

[Bd. b5, S. 657]

 


nach einer Auskunft des Braunschweiger Stadtarchivs befinden sich
daselbst auch keinerlei Akten zu der Angelegenheit.