Nr. 78, siehe GAA, Bd. V, S. 95 | 22. September 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Ludwig Tieck (Dresden) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Verehrtester Herr und Meister! Meine süßeste Lust besteht in dem Bewußtseyn, aus meinem Schlupfwinkel heraus mit Ihnen reden zu dürfen; Sie, seit Shakspeare der größte romantische Genius, dessen Werke, 20je mehr man sie studirt, um so wunderbarer strahlen und deren Ruhm durch die Zeit, die sonst alles vertilgt, nur immer mehr zunehmen kann, Sie verachten mich nicht gänzlich. Glauben Sie auch nicht, daß ich das eben Gesagte gegen meine Ueberzeugung, als leere Schmeichelei, geredet hätte; es 25wird Ihnen ganz eins seyn, ob ein miserabler Schlucker wie ich so oder so von Ihnen denkt; nur die Herzlichkeit meines Lobes kann ihm Werth verleihen. Ich mußte es niederschreiben, weil ich neulich durch einen, in meinem Geburtsneste, wo man die Litteratur nur vom Hörensagen kennt, höchst merkwürdigen 30Zufall, wieder einige Theile von dem Phantasus und mehrere Ihrer Novellen zu lesen bekam; noch nie fiel es mir so auf, daß Sie, so sehr auch das liebe Deutschland Sie anerkennt, dennoch eigentlich wohl noch nicht zum Sechsthel erkannt sind. Doch ich weiß nicht, ob Sie mir dieß Geschwäze 35übel nehmen. — Fürchten Sie nicht, daß ich Sie jetzt mit der Trödelbude meines Jammers unterhalten werde; betrachten Sie die paar Worte, welche ich darüber sage, wie eine Stelle aus einem schlechten Roman und achten Sie auf meine Bitten nicht, wenn sie Ihnen mißfallen. — Ich kann es hier nicht [GAA, Bd. V, S. 96] aushalten und will bald wieder forteilen; einige Wochen denke ich noch zu verziehen, in der Hoffnung, daß ich vielleicht von Ihnen zwei Zeilen mit Rath oder Trost erhalte; meinen Eltern lüge ich stündlich vor, daß ich in der Ferne 5angestellt bin und sie freuen sich nicht wenig; wüßten sie das Gegentheil, so würden sie wie Schnee vergehen; dennoch wünsche ich aus voller Seele, daß sie eines sanften Todes schon längst gestorben wären, dann wäre ihnen besser und ich wäre frei. In Bremen, wohin ich geschrieben habe und wo ein Herr 10von Staff für mich zu wirken suchte, scheint sich keine Laufbahn aufzuthun. Wegen der Nähe meiner Heimath darf ich mich in Westphahlen selbst nicht weiter umsehn. Ich meine, nach Berlin reisen zu müssen, dort, in einer größern Stadt, wo Theater, Schriftsteller, weitläuftige juristische Collegien 15sind, finde ich hoffentlich irgend einen Angelhaken. Sollte ich jemals aus meiner Lage wirklich heraus kommen, so wird sie sicher einen unendlichen Nutzen für mein Gemüth und meinen Geist haben, ja, ich würde wahrscheinlich eine echt christliche Idee von Gottes wunderbaren Wegen erhalten. — 20Da ich hier wenig mit Menschen umgehe, so schweife ich desto mehr in der Natur umher; sie ist wild und hübsch, und das ganze lippische Land rauscht von Bäumen, Waldbächen und fallenden Blättern; wenn ich aber so auf einem Berge stehe, fällt mir oft der nahende Winter ein und zum 25erstenmal in meinem Leben fürchte ich ihn, weil ich nicht weiß, ob ich eine warme Stube werde haben können. Meine Gesundheit ist eisenfest, und ich wollte nichts mehr wünschen, als daß ich sie Ihnen schenken könnte. O Herr! jedes Wort von Ihnen gilt viel; wenn Sie mir in Dresden, Berlin oder 30Leipzig irgendwo ein schmales Unterkommen bei einem Buchhändler oder Theater u. s. w. schaffen könnten, so hätten Sie mich und zwei alte Leute glücklich gemacht. Bis jetzt noch erliegt meine Seele nicht und sie hat die hereinstürmenden Unglücksfälle mit blutigen Köpfen zurückgeworfen; bei 35Gott, sie verdient es, daß Jemand ihr hilft. Eine kleine, kleine Antwort von Ihnen wäre schon Erlösung; aber wenn Sie mir auch dieß Gesuch abschlagen, so werde und kann ich doch nimmer und nimmer vergessen, was Sie mir schon Gutes und Edles gethan haben. Stets | | Ihr | Detmold, den 22ten Sept. [1823]. | | Ch. Grabbe. | [GAA, Bd. V, S. 97] (Besonders feindseelig scheint mir jetzt der hiesige Superintendent zu seyn, weil er, wie ich vermuthe, durch einen Landsmann, der mich in Berlin besuchte, erfahren hat, daß sich in meinem Lustspiel der Teufel für einen Generalsuperintendenten 5ausgibt.) |
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