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Nr. 286, siehe GAA, Bd. V, S. 317nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Wolfgang Menzel (Stuttgart)
Brief

        Hochgeehrtester Herr!

  Dank für Ihren Brief. Und nur keine Entschuldigung wegen
Ihrer verzögerten Antwort: denn 1) antworten Schriftsteller
25in der Regel spät, und das muß seine Gründe haben, eben
weil es so allgemein ist, — 2) weiß ich, daß Sie genug zu
thun haben, und sehe, daß Sie überflüssig thun, — u. 3) ließ
mich der Anblick Ihres Schreibens das Warten darauf sofort
vergessen, ja — doch was hilft der wahre Ausdruck der Empfindung,
30wenn er für schmeichlerische Phrase gehalten werden
kann? Indeß spricht die Natur der Sache für mich, — lang
ersehnt, sehr willkommen pp.

  Die jetzige Zeit wirkt trefflich auf mich ein. Es ist juristisch
erweislich, daß am selben Morgen als ich die lieben Ordonnanzen
35des zehnten Karls las und ihre Folgen für Frankreich
ahnte, mir die Gicht aus den Füßen fuhr. — Warum, weiß

[GAA, Bd. V, S. 318]

 


ich nicht recht. — Oder, sollt' es seyn, verdauen wir endlich
6000 Jahre Weltgeschichte? — — Alle Staatsrevolutionen helfen
aber doch nichts, wenn nicht auch jede Person sich selbst
revolutionirt i. e. wahr gegen sich und andere wird. Darin
5steckt alle Tugend, alles Genie. Ist das toll von mir gedacht?

  Ich habe ein schweres Jahr gehabt. Die große Weltzeit hat
eine kleine Vorzeit nicht ganz für mich verdrängen können —
die Gicht ist fort, aber Nervenschläge treffen mich doch noch
circa alle 4 Wochen mit schauderhafter Kraft. Dabei, als hiesiger
10Auditeur, Militairgeschäfte mehr als je — Verzeihen Sie
daher wilde Briefe um so mehr als Briefe doch das hin und
herspringende Gespräch ersetzen müssen, und vielleicht so besser
sind, je mehr sie sich der Unbefangenheit der persönlichen
Unterredung nähern.

15  Mein Napoleon ist in vollem Druck. Ich habe beinah zuviel
in ihm vorausgesagt, soviel, daß, als die Begebenheiten rascher
waren wie Abschreiber und Setzer, ich, um kein zu arger
Prophet ex post zu seyn, Manches streichen mußte. Mein
Verleger wird Ihnen das erste Exemplar schicken.

20  Sie wünschen mich populärer. Mit Recht. — Aber theatralischer?
der Manier des jetzigen Theaters entgegenkommender?
— Ich glaube, unser Theater muß dem Poeten mehr entgegenkommen.
Das thut es aber weder durch Eröffnung pecuniären
Gewinnstes, noch durch Darbietung tüchtiger Künstler. Wäre
25an das Schauspiel das gewendet, was in der letzten Syrupszeit
an die Oper verschwendet ist, es ließe sich sogar ein Gothland
aufführbar machen. Übrigens ist auch (natürlich nach meiner
Einzelmeinung) das Drama nicht an die Bretter gebunden,
— der geniale Schauspieler wirkt durch etwas ganz Anderes
30(NB. das „ganz Andere“ ist ein ekelhafter vager Ausdruck, —
zu sagen, was ich damit meine, erfordert aber wohl scharf
gewählte Worte, und das Auswählen würde diesen Brief um
Wochen verzögern, oder 6 Seiten voll ungeordneter Gedanken,
und die liefre ich nicht gerne. Hoffentlich einmal die Worte)
35als der Dichter, und das rechte Theater des Dichters ist doch
— die Phantasie des Lesers. Die Eumeniden, die Sakontala,
der ganze Shakespeare und unsere Zeit, die der Bühne über
den Kopf wächst, beweisen es vielleicht. Vielleicht, — denn
Sie scheinen anders zu denken, und das hätte mich bei Jedem
40stutzig gemacht, bei Ihnen macht es mich nachdenklich und
zweifelhaft.

[GAA, Bd. V, S. 319]

 


  Dank für Abdruck der Aschenbrödeleien, und moralisch und
literarisch wird mir jedes Lob und jeder Tadel von Ihnen
willkommner seyn als ich sagen mag. — Ich hatte im Juni
v. J. über Goethes und Schillers Waschzettel-Wechsel eine
5breite Abhandlung geschrieben, in der aber nun manches zu
spät, manches unzeitig seyn mag. Können Sie es gebrauchen,
steht's zu Dienst.

  Verzeihung für das wüste Aussehen dieses Briefes. Ich vergaß
im Eifer, daran zu denken, und hochachtungsvoll bin ich

10  Detmold den 15ten Januar 1831.

Ew. Wohlgeboren ergebenster