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Nr. 52, siehe GAA, Bd. V, S. 52nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Berlin) an Ludwig Tieck (Dresden)
Brief

        Hochverehrter Herr!

25  Ihr Brief, welcher mich grade an meinem Geburtstage überraschte,
ist mir das schönste und wertheste Geburtstagsgeschenk,
welches ich jemals erhalten habe. Das Wohlwollen und die
Milde, welche daraus unverkennbar hervorleuchten, haben
meinen Geist, der durch traurige innere und äußere Verhältnisse
30in die tiefste Apathie versetzt war, auf's neue beseelt.
Freudig gestehe ich, daß Ihre Critik mich und mein Werk

[GAA, Bd. V, S. 53]

 


meistentheils bis in das Innerste trifft, und statt eine jämmerliche
Autorenempfindlichkeit zu fühlen, bin ich vielmehr entzückt,
Ihres Tadels werth gewesen zu seyn. — Die Vermuthung,
daß ich noch jung bin, ist gegründet; ich zähle erst
521 Jahre, habe aber leider schon seit dem siebzehnten fast
alle Höhen und Tiefen des Lebens durchgemacht und stehe
seitdem still. Wenn in meinem dramatischen Versuche hin und
wieder der Ton einer tiefen Verzweiflung hervorklingt, so
thut mir das besonders deswegen leid, weil es aussehen möchte
10als wenn ich auf Lord Byrons Manier mit meinem Schmerze
renommiren wollte, und daran habe ich doch nicht gedacht;
ich will mich von jetzt an bemühen, bloß heitere Sachen zu
dichten, welche mir wahrscheinlich auch besser gelingen werden,
weil sie mir ferner stehen. Die Behaglichkeit, in der
15Sie selbst das herrlichste Muster sind, vermissen Sie in meinem
Versuche mit großem Rechte; jedoch dichte ich auch nicht
in leidenschaftlicher Bewegung, sondern besitze, was vielleicht
sonderbar scheint, während des Schreibens die starrste Kälte,
welche denn freilich ein schlechter Ersatz für jene freundliche,
20mild wärmende Ruhe ist. Dürfte ich Ihre liebreichen Worte:
„lassen Sie uns bekannter mit einander werden“ im weiteren
Sinne nehmen; so würde ich hier vor Ihnen, dem Einzigen,
vor dem ich es thun möchte, mich frei und zutrauungsvoll
über manchen Zwiespalt, der sich in meiner Brust zwischen
25Kunst und Leben, Verstand und Gefühl erhoben hat, näher
auslassen, und ich weiß, daß es die wohlthätigsten Folgen für
mich haben würde; aber es ist keine bloße Briefschreiberphrase,
wenn ich sage, daß ich bei jedem Federzuge in Furcht bin,
Ihren Unwillen zu erregen. — — Sollte das Lustspiel, welches
30beian liegt, die nachsichtige Meinung, welche Ewr Wohlgeboren
von mir gefaßt haben, nicht verringern, so ist mir
das fünfzigtausend mal lieber als die günstigsten Urtheile
sämmtlicher deutschen Recensenten. Daß die Persönlichkeiten,
welche in demselben vorkommen, harmlos gemeint sind, und
35daß der ganze Gang der Handlung absichtlich so lose und
wunderlich aneinander gestellt ist, hoffe ich im Stücke selbst
mehrmals ausgedrückt zu haben. Wenn ich Ewr Wohlgeboren
versichere, daß in meiner jetzigen Lage, welche vielleicht manchen
andern völlig niederdrücken würde, Ihre Briefe die einzigen
40Lichtpuncte sind, welche mich erheitern und beruhigen
können, so werden Sie mir meine Bitte um baldige Antwort,

[GAA, Bd. V, S. 54]

 


wenn auch nicht gewähren, doch gewiß verzeihen. Mit der
tiefsten und innigsten Verehrung verbleibe ich
                             Ewr Wohlgeboren
Berlin den 16 Dec.    gehorsamster Diener
        1822.                                  Ch. D. Grabbe.

(Adresse: große Friedrichsstraße, nro 83, beim Riemermeister
        Kramer.)

 

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  Ebene schließenChronologisch
   
1818Meyersche Hofbuchhandlung Nr. 22, 03. März 1818
1820Adolph Henrich Grabbe 
1822Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 42, 01. März 1822 — Adolph Henrich Grabbe  — Gotthelf Heinrich Jacobi Nr. 49, 21. November 1822 — Ludwig Tieck Nr. 51, 06. Dezember 1822
1823Adolph Henrich Grabbe  — Otto Carl August Ludwig Höpffner Nr. 62, 04. April 1823 — freunde Nr. 65, 24. April 1823 — Ludwig Christian Gustorf  — Karl Köchy Nr. 73, 24. Juli 1823 — Witwe Lohse Nr. 79, 23. November 1823
1824Karl Köchy Nr. 82, 16. Februar 1824 — Wilhelm Hermann Claepius Nr. 84, 01. März 1824 — Examinationskommission Nr. 86, 28. März 1824 — Fürstlich Lippische Regierung Nr. 87, 02. Juni 1824
1826Fürstlich Lippische Regierung Nr. 111, 14. November 1826 — Christian Gottlieb Clostermeier 
1827Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 137, 07. November 1827 — Fürstlich Lippische Regierung 
1828Fürstlich Lippische Regierung  — Christian Gottlieb Clostermeier Nr. 154, 23. Januar 1828 — Louise Clostermeier  — Johann Karl August Kestner Nr. 178, 28. März 1828 — Louise Christiane Clostermeier 
1829Louise Christiane Clostermeier Nr. 233, 13. Juli 1829 — Fürstlich Lippische Regierung Nr. 252, 22. Dezember 1829
1831Fürst Leopold zur Lippe II. Nr. 298, 14. April 1831 — Fürstlich Lippische Regierung  — Louise Christiane Clostermeier Nr. 348, 29. Dezember 1831
1832Fürstlich Lippische Regierung  — Secondelieutenant Carl Wilhelm Runnenberg Nr. 365, 27. Juli 1832
1833Secondelieutenant Carl Wilhelm Runnenberg Nr. 370, 20. Januar 1833 — Wilhelm Arnold Eschenburg Nr. 378, 16. März 1833 — Johann Wilhelm von Hoffmann Nr. 379, 17. März 1833 — Louise Christiane Grabbe Nr. 387, 26. April 1833 — Fürstlich Lippische Regierung 
1834Fürst Leopold zur Lippe II. Nr. 423, 30. Januar 1834 — Fürstlich Lippische Regierung  — Louise Christiane Grabbe Nr. 476, 13. November 1834 — Karl Leberecht Immermann Nr. 481, 21. November 1834
1835Louise Christiane Grabbe  — Karl Leberecht Immermann  — Carl Georg Schreiner Nr. 648, 27. August 1835
1836Louise Christiane Grabbe  — Karl Leberecht Immermann Nr. 687, 25. Februar 1836 — Moritz Leopold Petri Nr. 700, 05. May 1836 — Carl Georg Schreiner  — Fürstlich Lippisches Konsistorium Nr. 728, 07. September 1836
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