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Nr. 78, siehe GAA, Bd. V, S. 95nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Ludwig Tieck (Dresden)
Brief

            Verehrtester Herr und Meister!

  Meine süßeste Lust besteht in dem Bewußtseyn, aus meinem
Schlupfwinkel heraus mit Ihnen reden zu dürfen; Sie, seit
Shakspeare der größte romantische Genius, dessen Werke,
20je mehr man sie studirt, um so wunderbarer strahlen und
deren Ruhm durch die Zeit, die sonst alles vertilgt, nur immer
mehr zunehmen kann, Sie verachten mich nicht gänzlich.
Glauben Sie auch nicht, daß ich das eben Gesagte gegen
meine Ueberzeugung, als leere Schmeichelei, geredet hätte; es
25wird Ihnen ganz eins seyn, ob ein miserabler Schlucker wie
ich so oder so von Ihnen denkt; nur die Herzlichkeit meines
Lobes kann ihm Werth verleihen. Ich mußte es niederschreiben,
weil ich neulich durch einen, in meinem Geburtsneste, wo man
die Litteratur nur vom Hörensagen kennt, höchst merkwürdigen
30Zufall, wieder einige Theile von dem Phantasus und
mehrere Ihrer Novellen zu lesen bekam; noch nie fiel es
mir so auf, daß Sie, so sehr auch das liebe Deutschland Sie
anerkennt, dennoch eigentlich wohl noch nicht zum Sechsthel
erkannt sind. Doch ich weiß nicht, ob Sie mir dieß Geschwäze
35übel nehmen. — Fürchten Sie nicht, daß ich Sie jetzt mit
der Trödelbude meines Jammers unterhalten werde; betrachten
Sie die paar Worte, welche ich darüber sage, wie eine Stelle
aus einem schlechten Roman und achten Sie auf meine Bitten
nicht, wenn sie Ihnen mißfallen. — Ich kann es hier nicht

[GAA, Bd. V, S. 96]

 


aushalten und will bald wieder forteilen; einige Wochen
denke ich noch zu verziehen, in der Hoffnung, daß ich vielleicht
von Ihnen zwei Zeilen mit Rath oder Trost erhalte;
meinen Eltern lüge ich stündlich vor, daß ich in der Ferne
5angestellt bin und sie freuen sich nicht wenig; wüßten sie das
Gegentheil, so würden sie wie Schnee vergehen; dennoch wünsche
ich aus voller Seele, daß sie eines sanften Todes schon
längst gestorben wären, dann wäre ihnen besser und ich wäre
frei. In Bremen, wohin ich geschrieben habe und wo ein Herr
10von Staff für mich zu wirken suchte, scheint sich keine Laufbahn
aufzuthun. Wegen der Nähe meiner Heimath darf ich
mich in Westphahlen selbst nicht weiter umsehn. Ich meine,
nach Berlin reisen zu müssen, dort, in einer größern Stadt,
wo Theater, Schriftsteller, weitläuftige juristische Collegien
15sind, finde ich hoffentlich irgend einen Angelhaken. Sollte
ich jemals aus meiner Lage wirklich heraus kommen, so wird
sie sicher einen unendlichen Nutzen für mein Gemüth und
meinen Geist haben, ja, ich würde wahrscheinlich eine echt
christliche Idee von Gottes wunderbaren Wegen erhalten. —
20Da ich hier wenig mit Menschen umgehe, so schweife ich
desto mehr in der Natur umher; sie ist wild und hübsch,
und das ganze lippische Land rauscht von Bäumen, Waldbächen
und fallenden Blättern; wenn ich aber so auf einem
Berge stehe, fällt mir oft der nahende Winter ein und zum
25erstenmal in meinem Leben fürchte ich ihn, weil ich nicht
weiß, ob ich eine warme Stube werde haben können. Meine
Gesundheit ist eisenfest, und ich wollte nichts mehr wünschen,
als daß ich sie Ihnen schenken könnte. O Herr! jedes Wort
von Ihnen gilt viel; wenn Sie mir in Dresden, Berlin oder
30Leipzig irgendwo ein schmales Unterkommen bei einem Buchhändler
oder Theater u. s. w. schaffen könnten, so hätten
Sie mich und zwei alte Leute glücklich gemacht. Bis jetzt
noch erliegt meine Seele nicht und sie hat die hereinstürmenden
Unglücksfälle mit blutigen Köpfen zurückgeworfen; bei
35Gott, sie verdient es, daß Jemand ihr hilft. Eine kleine,
kleine Antwort von Ihnen wäre schon Erlösung; aber wenn Sie
mir auch dieß Gesuch abschlagen, so werde und kann ich doch
nimmer und nimmer vergessen, was Sie mir schon Gutes und
Edles gethan haben. Stets
                             Ihr
  Detmold, den 22ten Sept. [1823].    Ch. Grabbe.

[GAA, Bd. V, S. 97]

 


  (Besonders feindseelig scheint mir jetzt der hiesige Superintendent
zu seyn, weil er, wie ich vermuthe, durch einen
Landsmann, der mich in Berlin besuchte, erfahren hat, daß
sich in meinem Lustspiel der Teufel für einen Generalsuperintendenten
5ausgibt.)

 

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1812Adolph Henrich Grabbe 
1814Adolph Henrich Grabbe 
1815Adolph Henrich Grabbe Nr. 7, 28. Februar 1815
1817Adolph Henrich Grabbe Nr. 15, 06. August 1817
1818Adolph Henrich Grabbe Nr. 16, 01. Februar 1818 — Fürstlich Lippisches Konsistorium Nr. 18, 07. Februar 1818 — Fürstin Paulina zur Lippe Nr. 17, 07. Februar 1818
1819Adolph Henrich Grabbe Nr. 26, 04. May 1819
1820Fürstlich Lippisches Konsistorium Nr. 28, 01. April 1820
1824Fürstlich Lippische Regierung Nr. 83, 17. Februar 1824
1826Christian Gottlieb Clostermeier  — Fürstlich Lippische Regierung  — Christian von Meien 
1827Georg Ferdinand Kettembeil Nr. 120, 28. April 1827
1828Christian von Meien Nr. 145, 09. Januar 1828 — Fürstlich Lippisches Militärgericht 
1829Christian von Meien Nr. 251, 22. Dezember 1829
1831Wilhelm Christian Ludwig Stedtfeld Nr. 303, 10. May 1831 — Fürstlich Lippische Regierung Nr. 307, 17. May 1831 — Freimeister F. Brauns Nr. 308, 24. May 1831
1833Catharine Sagel Nr. 381, 25. März 1833 — Magistrat Nr. 393, 30. May 1833 — Henriette Kehde Nr. 401, 25. Juni 1833 — Fürstlich Lippische Regierung  — Friedrich Althof Nr. 408, 12. Juli 1833 — Wilhelm Piderit Nr. 412, 10. Oktober 1833 — Ludwig Rötteken Nr. 414, 14. Oktober 1833
1834Obristleutnant Friedrich Adolph Böger  — Fürstlich Lippische Regierung  — Wilhelm Arnold Eschenburg  — Christian von Meien  — Karl Friedrich Simon Groskopf Nr. 456, 28. April 1834 — Heinrich Christian Albrecht Clemen Nr. 489, 13. Dezember 1834
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1836Jakob Stang  — Louise Christiane Grabbe  — Karl Leberecht Immermann Nr. 682, 17. Februar 1836
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