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[GAA, Bd. I, S. 431]

 


Mit roter Zunge giftig flammend, windet
Und mästet! —
          Golgatha,
Du Schädelstätte, wo das Licht der Welt
5Der Todesnacht sich hingab, daß es sie
Verkläre — Auch dein Strahl dringt nicht hieher!
Erstdruck — Du großes Buch, du Bibel (Fels des Glaubens sagt man),
Von Varianten voll und Doppelsinn,
Voll Weisheit und voll sonderbarer Sprüche,
10Mit keinem sichren Laubdach überwölben
In diesem dunklen Sturm mich deine Blätter;
Welk, trocken, fallen sie wie Laub des Herbstes,
Und wenn ichs nicht im Innern spüre, führen
Nicht tausend Bibeln, tausend Paradiese,
15Nicht alle Ewigkeiten mich zum Heil! —
— — O, welche Flammenschrift brennt mir im Haupte?
„Nichts glauben kannst du, eh du es nicht weißt,
„Nichts wissen kannst du, eh du es nicht glaubst!
Kein irdscher Geist, der dieses Rätsel ahnt,
20Und nicht nach seiner Lösung seufzte, — Keiner,
Der sie gefunden, — Selig die, die schwach
Genug sind, um vom Schein geblendet, Schein
Für Licht zu halten, — blindlings glauben, weil
Sie blindlings hoffen! Die schlaftrunknen Seelen!
25— Doch lieber will ich unter Qualen bluten,
Als glücklich sein aus Dummheit! — Erdball, Boden,
In dem ich wurzeln muß, der mich geboren —
Erstdruck Ein ausgerißner, ausgedorrter Stamm
Bin ich, wenn ich in deinem Mark den Fuß
30Nicht fassen, Kraft und Freude nicht draus ziehn kann,
Wenn ich entwurzelt mich in jenen Abgrund,
Der bläulich über unsren Scheiteln dämmert,
Voll der bigotten Hoffnung stürzen soll,
Daß dort in wüster Unermeßlichkeit
35Und Ferne, aufzufinden sei, was ich
Im nahen, engen Raum nicht finde!
                                 Nah!
Was ist mir näher als das Vaterland?
Die Heimat nur kann uns beseligen,
40Verräterei, die Fremde vorzuziehn!
Nicht Faust wär ich, wenn ich kein Deutscher wäre!