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[GAA, Bd. IV, S. 30]

 


  Handschrift Erstdruck Lord Byron sagt in seinem Don Juan etwas spöttisch,
Shakspeare sey zur „fashion“ geworden.

  Ich gestehe vorläufig, daß mir in der englischen schönen
Literatur nur zwei Erscheinungen von hoher Wichtigkeit sind:
5Lord Byron und Shakspeare, — jener als die möglichst poetisch
dargestellte Subjectivität, dieser als die eben so poetisch
ausgedehnte Objectivität. Lord Byron, in seiner Art so groß
als Shakspeare, mag grade wegen seines verschiedenen dichterischen
Characters nicht das competenteste Urtheil über ihn
10abgeben. Niemand ist indeß scharfsichtiger als ein würdiger
Gegner, und sollte nicht am Ausdrucke „fashion“ beim
Shakspeare etwas Wahres seyn?

  Ich glaube es.

  Will heutiges Tages ein seichter Theater-Kritikus sich eine
15vornehme Miene geben und kann er diese aus eignen
Mitteln nicht zu Wege Erstdruck bringen, so ist ihm nichts leichter als
mit seinem Finger auf den großen Shakspeare hinzudeuten
und ihn mit einigen leeren Floskeln als Muster zu nennen. Die
armen dramatischen Dichter fahren dabei am schlimmsten:
20schreibt einer von ihnen Handschrift im Geiste Shakspeares, des angeblichen
alleinigen oder doch höchsten Vorbildes deutscher Dramatiker,
so heißt es: „der Mann ahmt nach, und wie wenig
erreicht er seinen Meister!“ Ist der Poet dagegen so kühn,
in eignem Geiste zu dichten, so fällt das Urtheil für ihn noch
25übler aus, denn alsdann „befindet sich der Mann auf Abwegen,
es ist ihm zu rathen, Wahrheit und Natur, nicht etwa
in ihr selbst, sondern in ihrem einzigen Spiegel, im Shakspeare
zu studiren.“

  Drei Fragen müssen uns hier beschäftigen.

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I) Woher entstand und entsteht diese zur „fashion“ gewordene
Bewunderung Shakspeares?

II) Verdient Shakspeare eine solche Bewunderung?

III) Wohin würde diese Bewunderung und Nachfolge Shakspeares
das deutsche Theater führen?

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  Erstdruck Wir wollen versuchen, diese drei Fragen in etwas zu beantworten.


  Zur ersten Frage also. — Seit dem Zeitalter Ludwigs XIV
herrschte auf der deutschen Bühne die französische Manier.
Zum Heil der Menschheit erwacht im Menschen leicht der