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[GAA, Bd. IV, S. 153]

 


sprach: "das ist das Loos des Schönen auf der Erde." Sie
machte vor demselben eine Pause, accentuirte "Erde" und
blickte zu dem Gegensatz, zum Himmel. Alle anderen Schauspielerinnen
denken an letzteres nicht, und ich stutzte anfangs
5auch vor der neuen Auffassung. Und es ist doch die richtige.
Thekla, aus der klösterlichen, frommen Einsamkeit kurz vorher
in die Welt getreten, in das wilde Lager ihres Vaters,
hat gewiß sich gefreut mit Max und ihm, von der bewegten
Erde zu dem Himmel aufblicken zu können. Ihre Beschreibung
10des astrologischen Thurms in den Piccolomini's verräth das
schon. Was war ihr näher, als an die Unsterblichkeit über
den Sternen zu [S. 73] Erstdruck denken, als Max ihr dahin vorausgegangen?
Und hätte Schiller selbst nicht an diese Bedeutung
gedacht, so durfte die Schauspielerin sie aus dem Gedicht doch
15herausrathen und bei der Darstellung hineinlegen. Denn jedes
ächte Dichtwerk ist wie die Natur; unendlich ist es da, aber
der Zuschauer kann es nicht genug von immer neuen Seiten
betrachten, und der Dichter selbst weiß kaum, was alles in
der Begeisterung er geschaffen hat, oder gibt doch keine
20Rechenschaft davon, obgleich mir ist, als hört' ich hier sie
in Thekla's später gedichteter Geisterstimme.

  Alle übrigen Schauspieler füllten ihre Plätze aus. Der Abend
lieferte uns ein in jeder Weise mit unermüdetem Fleiße, begeistertem
Willen, tiefer Einsicht und Kraft eingeübtes und dargestelltes
25Kunstwerk.
[S. 74] Erstdruck IV.
König Johann.

Aufgeführt den 1. April 1835.

Shakspeare ist der räthselhafteste, eigenste der Dichter, und
30legt im König Johann keine geringe Probe davon ab. Augenblicks
weiß man oft nicht, was aus den pomphaften Worten,
Wortspielen und gehäuften Antithesen dieser Dichtung zu machen,
und doch liegen überall versteckte Angeln für Kopf
und Herz. Ich glaube, dieses Stück ist als der etwas lauttönende,
35aber wohlberechnete Prolog zu seinem Dramencyclus
aus der englischen Geschichte zu betrachten, so wie sein Heinrich
VIII. der feine, sehr praktisch belehrende Epilog dazu