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[GAA, Bd. IV, S. 97]

 


unvorsichtig hascht. Die Hoffnung ist bei unseren politischen
Weltverhältnissen zu oft getäuscht worden, — wer daher von
dem Kunstwahnsinn unangesteckt geblieben ist, oder dabei
einige Muße übrig behalten hat, sich auch bisweilen um ernstere
5Dinge zu bekümmern, wendet sich zu den Bildern der
Vergangenheit. Diese dürfen aber ja nicht großartig geordnet,
wie sie uns etwa ein Gibbon darstellt (wie viel Belletristen
möchten wohl auch nur Gibbon gelesen haben?), gezeigt werden,
— das wäre zu viel verlangt. Nein, wir müssen die
10Geschichte brockenweise genießen, und die Brocken müssen
modisch gebacken seyn. Da regnet es denn hageldicht Memoiren,
dem literarischen Pöbel immer willkommen, wenn sie nur
Anekdoten, gleichviel ob wahre ob unwahre, mitbringen,
denn den Waizen aus der Spreu sondern, kann solcher Pöbel
15nicht, — da kommen Segur'sche phantastische Kriegsgeschichten,
— desgleichen historische Romane à la Walter Scott, in
denen die Heroen der Vorzeit schnöde castrirt sind, damit sie
in ihrem, in der Laffen Tone etwas dem Leser vorpfeifen
können. Endlich finden sich da auch Briefwechsel Verstorbener
20oder Lebender ein, selbst solche bei welchen für den Briefsteller
und den Briefempfänger nichts wünschenswerther gewesen
wäre, als daß man sie ewig unter ihrem Siegel hätte
ruhen lassen und nie der Welt zum Scandal mittheilen sollen.
Der über seine Klugheit närrisch gewordene Hamann, welchen
25Goethe vielleicht eben deshalb, weil er ihn nicht versteht,
als Philosophen bei uns einschwärzen will, muß jetzt, nach
dem Tode, seine Briefe zum Druck hergeben, — Lessing, Winkelmann,
G. Forster, Jean Paul müssen desgleichen thun. Gut,
es findet sich stets in diesen Briefen etwas Interessantes, und
30klärte es auch nur den Character dieser Männer auf. Aber da
kommt auch noch der Briefwechsel zwischen Schiller und
Goethe, und etwas Unbedeutenderes (man möchte sagen Elenderes)
ist seit Langem nicht gedruckt.

  Die Briefe eines Cicero, eines Plinius geben uns wichtige
35Aufschlüsse über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, —
die Briefe aus dem Jahrhundert Ludwigs XIV (von Bussy-Rabutin,
von der Sevigné? p. p.) zeigen einen eleganten Conversationston,
eine außerordentliche Feinheit des Styls, — die
Briefe Friedrichs des Einzigen, mit Voltaire, d'Argens u. A.
40gewechselt, lassen uns überall Geister erkennen, welche die
alte Zeitlage erkennend, reformirend in das neue Weltalter